Dr. Hans Wollschläger»Tiere sehen dich an« |
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Man wird Tiere sehen auf der Erde, die werden einander bekämpfen ohn' Unterlaß, und wird ein gewaltiger Schade sein durch sie und vielfältiger Tod auf jeglicher ihrer Seiten; dieselben werden kein Ende nehmen in ihrer Bösartigkeit; durch ihre wilden Kräfte werden die Bäume der großen Wälder der Welt hinsinken, und wenn sie sich sattgefressen halben, wird es die Nahrung ihrer Begierden sein, Tod zu bringen und Drangsal und Erschöpfung und Furcht und Schrecken allem, was da beseelt ist; und in ihrem grenzenlosen Hochmut werden sie sich zum Himmel erheben wollen, doch die übergroße Schwere ihrer Glieder wird sie niederhalten; nichts wird auf Erden bleiben noch unter der Erde noch im Wasser, was nicht verfolgt, verschleppt oder verdorben würde, und wird solches verschleppt werden von einem Lande ins andre; und es wird der Wanst jener das Grab sein und der Durchgang aller beseelten Körper, welche durch sie zu Tode kommen –: O Erde, wie geht es an, daß du dich nicht öffnest und stürzest sie in die tiefsten Klüfte deiner großen Abgründe und Höhlen, daß sich dem Himmel kein so grausames und erbarmungsloses Ungeheuer mehr zeige!Leonardo da Vinci
Und dieser Welt, diesem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehen, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Thier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, wo sodann mit der Erkenntniß die Fähigkeit Schmerz zu empfinden wächst, welche daher im Menschen ihren höchsten Grad erreicht und einen um so höheren, je intelligenter er ist, - dieser Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den möglichen andemonstriren wollen. Die Absurdität ist schreiend.Arthur Schopenhauer
Es hat nicht allein jedes Jahrhundert, sondern jedes Jahrzehend seinen besondern Geist, der das ganze Meer menschlicher Meinungen und Neigungen bewegt, und entweder macht, daß alles tobt oder stockt. Politik, Religion, Moral, Literatur, Industrie, Kommerz, Kultur hängen alle so genau zusammen, wie die ganze Kraft der menschlichen Seele, ob man sie gleich den Namen nach trennen muß, um verständlich zu sein, – so wie man von Geist und Leib, Verstand und Willen, höhern und niedern Seelenkräften als verschiedenen Dingen spricht. Keins von allen kann seine besondere Richtung nehmen, vorzüglich bearbeitet oder vernachlässigt werden, ohne daß das Ganze eine Veränderung leide.Wie es in Ansehung des Intellektuellen mit uns stehe, ob die dermalige Menschenrace der andern auf die Schultern steige, ob wir vor- oder rückwärts gehen, oder ob wir beständig beschäftigt sind, ohne etwas zu produciren, diese Frage bedarf Erörterung. Sie ist nicht so leicht entschieden; allein über die Zusammentreffung gewisser Phänomene in der jetzigen intellektuellen Welt lassen sich wohl einige Worte verlieren.
Es scheint sich ein cynischer Bonsens des Ganzen bemächtigt zu haben, der alles Verhältniß von Groß und Klein zerstört, im Empyräo des allein Nützlichen wandelt, über alle Theorien spöttelt, nichts glauben will, was er nicht mit Händen greifen kann, und alles Edle als unnütz angrinzt. Der Strom der Wissenschaften scheint nicht mehr in einem sichtbaren, tiefen Bette fortzufließen, man hat ihn gedämmt und durch encyclopädische Bemühung in tausend Kanäle und Rinnen abgeleitet, so daß jeder seinen Antheil an der Gemeinheit hat, – allein dafür ist er bis auf den Namen im Sande versiegt und fürs Ganze verloren.
Johann Heinrich Merck
I.
Sie werden in Gefängniszellen gehalten, so eng wie die Stehsärge von Oranienburg; das Licht, das ihnen morgens aufgeht, kommt von der Neonröhre, die angeht; ihre Grundlebensbedürfnisse werden mit der chemischen Keule niedergeschlagen, ihre Grundtriebe ebenso an- und abgestellt, Fortpflanzung und Nachkommenaufzucht auf perverse Art mechanisiert. Ihr einziger Daseinszweck: Selbstaufzucht, Selbstvervielfältigung. Haftpsychosen sind die Regelfolge, Selbstmordversuche; die Lebensdauer, die ihnen zugebilligt wird, liegt tief unter ihrer natürlichen Lebenserwartung; das Urteil, Begnadigung ausgeschlossen, lautet generell auf Lebenslänglich.
Es ist die Rede von Tieren, nicht von Menschen. Die Unterschiede sind bekannt, wenn sie auch vom Menschentier überschätzt werden; der Nicht-Unterschied (um selbst auf der psycho-vegetativen Ebene nicht von jener »Gleichheit« zu reden, die auch innerhalb der Menschenart eine heikle Behauptung wäre): elementare Sensibilität gegenüber Perversionen in der Ordnung des lebendigen; Geltung des Lustprinzips; Leidensfähigkeit. Wer das bestreitet, dementiert seine eigene Erfahrungs- und Wahrnehmungssensibilität; er widerspricht zudem den Erkenntnissen unserer ersten Verhaltensforscher wie Konrad Lorenz und steht, mit nichts als seinem Selbstinteresse in Händen, als frech anmaßender Idiot da. Als Selbstbetrüger oder Heuchler steht da, wer sich auf Unwissenheit herausredet. Denn es gibt mittlerweile eine umfangreiche Literatur darüber, und für die 30 Prozent Analphabeten, die keine Bücher lesen können, haben auch Fernsehen und Zeitschriften das Nötige getan, um selbst die verklebtesten Augen aufzusperren: für eine Greuel- und Grauensperspektive, ohnegleichen, so weit die Erde reicht und die Welterscheinung von Menschenhand bestimmt wird. Wer in sie hineinschaut, mit allen Sinnen, den seelischen wie den intellektualen, auch jenen, die durch ein paar Lebensfreuden sonst noch leidlich ablenkbar sind, kommt am Ende um alle Fähigkeit, seines Mitlebens froh zu werden –: Was in den Zucht- und Schlachtanstalten der sogenannten zivilisierten Nationen geschieht, gehört, alles erwogen, zu dem wohl stärksten Verbrechen, das zurzeit auf Erden zu registrieren ist; es gehört mit zu einem Problem von allergrundsätzlichster Bedeutung.
Es ist die Rede von Tieren, einigen, vielen: von Hühnern, Kälbern, Schweinen; nicht von Menschen. Aber es ist ersichtlich ein Menschenproblem, und das heißt, daß seine Lösung auf eine Vernunft angewiesen bleibt, die, hier wie anderswo, einen buchstäblich unzureichenden Grund darstellt, es zu lösen: – wäre es ein Tierproblem, mit umgekehrten Rollen, so hätte es der tierische »Instinkt«, Platzhalter vieler »humaner« Eigenschaften, vermutlich längst gelöst. Es ist ein Menschenproblem, und das heißt: es prallt bei seinen tastend kriechenden Lösungsversuchen unweigerlich an jener Grenze ab, wo die Herrschaft des Stammhirns und seiner Grundantriebe beginnt, der elementaren Komponenten des Willens zur Macht: Habgier, Gewinnsucht, Fraß-Süchtigkeit im weitesten wie im engsten Sinn. Denn beiseite gelassen, ob es da - bei Evolutionsteilnehmern, denen ja auch der Kortex gewachsen ist – gegen »die Natur« ginge, – es geht jedenfalls am Ende um nichts Geringeres als die Möglichkeit, die übererbte Raubtiergewohnheit, andere Wesen zu fressen, schrittweise einzuschränken und endlich gar gänzlich durch unraubtierische Ernährungsformen zu ersetzen -: ja, ist das - und man muß, da es anderen Völkern sehr weitgehend gelungen ist, immerhin betreten hinzusetzen: in unserem Kulturkreis überhaupt denkbar, »machbar«, un-utopisch?
Die Einführung des Vegetarismus hat schon vor knapp 140 Jahren, als er zur Bewegung wurde, alles Mögliche für sich gehabt, nicht zuletzt auch den mampfenden Hohn der Idioten, deren Taschenbacken sich unfehlbar zum Feixen verziehen, wenn eine der primitiven Ideologien, von deren Ertrag sie sich mästen, ins Wackeln gebracht wird. Aber seither sind die Gründe ins Erdrückende gewachsen, und es sind sogar nicht nur moralische, lebenstheoretische Gründe, sondern höchst praktische, die selbst der dickfelligsten Habsucht einleuchten müßten, nämlich hygienische und ökonomische – (wer's nicht weiß, setze sich auf den Hosenboden und mache sich mithilfe der einschlägigen Literatur sachkundig). Hygienische Gründe: nicht nur daß die fleischproduzierenden Tiere ein reines Stapellager von Toxika sind, die ihnen von den Profitzüchtern eingestopft werden, - sie stellen auch, im Fall des Massenverzehrs Schweinefleisch, eine direkte Giftquelle dar – (wer's nicht weiß, setze sich); die abendländische Medizin, deren Denken ziemlich dumm ist, beginnt in dieser Hinsicht – wenigstens in ihren besten Köpfen – allmählich die Uralt-Einsichten orientalischer Natur-Völker einzuholen. Ökonomische Gründe: daß der Nahrungsaufwand für Zuchttiere längst weit größer ist als ihr Nahrungsertrag. Vernunftsgründe allesamt, vernünftige Gründe durchweg -: wie kommt es, daß sie jene Barriere der Grundtriebe selbst da nicht zu durchbrechen vermögen, wo sie sich mit ihnen verbünden könnten?
Verbündet sind sie überdies mit noch anderen Überlegungen, und zwar solchen, die längst nicht mehr in den nur meta-physischen Bezirk gehören, wo sie aufs Grinsen des Gemeinen Menschen ein traditionelles Anrecht hätten, sondern vielleicht ganz handfest und hautnah mit in den physischen, in dem sich die gröberen Naturwissenschaften umtun und Rückstandsspuren erfahnden können, von Pestiziden und Schwermetallsalzen, von somatotropen Hormonen und Anabolika –: wie wäre es, wenn die Greuel der Massentierhaltung und -verwertung noch direkteren Anteil hätten am globalen Problem unserer zweiten Jahrhunderthälfte, nämlich der industriell betriebenen Intoxikation des gesamten Planeten und seiner Lebenssysteme? »Die Natur« ist jedenfalls mit dem Lebenssystem Mensch auf weit mehr Ebenen funktionell verbunden als denjenigen eines grob materiellen Energiemetabolismus –: wie, wenn ins Wechselwirkungsspektrum auch Kräfte gehörten, die man bislang gemächlich ins seelische Irgendwo zu separieren gewohnt ist? Was zeigt sich an, wenn gegen den drohenden Zusammenbruch der Waldvegetation zuerst »das Gemüt« rebelliert? Gegen welchen drohenden Zusammenbruch rebelliert »der Geschmack«? Eier von Batteriehühnern schmecken ja nicht nur wie Dreck, sie sind es vermutlich auch, nämlich weil riskant, giftig, schädlich –: sollte es vielleicht sein können, daß sich die Existenzqual ihrer Erzeuger (und das sind eben leider nicht die Händler-Lumpen, die sich gern so nennen und denen man sie gönnte, sondern deren Opfer) – daß sich diese Qual selbst in ihnen manifestiert hat – und sich, als infinitesimale (aber desto tiefer wirksame?) Dosis Angst, Schmerz, »Tod«, beim Verzehr übermittelt? Wenn der Organismus über die vegetative Steuerung oder noch andere Signalnetze durch Leiden funktionell, ja organisch verändert wird, bis hin zum Herzarrest im Streß der Schlachthausumwelt, wieso sollte die sich derart manifestierende Destruktionskraft nicht mit den Organen selbst vom Fresser inkorporiert werden – zu seinem unabsehbaren, weil sich endlos akkumulierenden Schaden? Eine Verbindung zwischen den Leiden der Tiere und den sich pandemisch verbreitenden psychischen Krankheiten ihrer menschlichen Mittiere, gar deren täglich unbändigerer Bösartigkeit zu sehen, ist vielleicht weit weniger absurd, als der nüchterne Blick sich einbildet. Die Schulwissenschaften stellen für solche meta-physisch vernetzten Kräfte noch keinerlei Terminologie bereit, die ein stringentes Argumentieren auch in ihrer Sprache erlaubte, weil ihnen aus nur zu guten, nämlich konsequent schlechten Gründen jede Forschungsneugier dafür fehlt; das Thema kann einstweilen nur der Ahnung und »Phantasie« zugewiesen werden. Aber wer in einigen, mittlerweile durchaus geläufigen Vorstellungen der Theoretischen Physik zu denken versteht, sieht jedenfalls den Fragestellungen der Schuldisziplinen Möglichkeiten verschlossen, die im nächsten Jahrtausend über ihr Fortbestehen überhaupt entscheiden dürften. Das nächste Jahrtausend - dies vorauszusagen bedarf schon kaum noch der Phantasie - wird alles hinter sich lassen, was bloß »Technik« war, Mechanik, Materialität, und das Zeitalter der Humanwissenschaft sein – als Natur-Wissenschaft. Wir haben von dem, was »Natur« wirklich meint, wie von dem gesamten Energiephänomen »Leben«, einstweilen noch schlechterdings keine Ahnung; aber das blasierte Lächeln der mechanistischen Wissenschaften ähnelt bereits erkennbar fatal der Miene des Innenministers, wenn er den Super-GAU für unbedenklich erklärt, weil der sich 2000 Kilometer entfernt zugetragen habe, oder der jenes unbeschreiblichen Ministerpräsidenten, der die Strahlungsgefahren mit denen des Alkohols vergleicht. Wir leben in einer Umwelt großspurigster Ignoranz und Inkompetenz; sie haben längst auch die Enährungswirtschaft zu einem Albtraum gemacht.
Das stärkste Verbrechen, vernunftswidrig mit Sicherheit, lebenswidrig wahrscheinlich –: wie, nochmals, kommt es, daß mit ihm nicht fertig zu werden ist? Müßte einem, wo schon ein so scheinbar primitiver Widerstand wie die – nicht einmal natürlich vorgegebene, sondern bloß erworbene – Eßgewohnheit soviel Vernünftigkeit zur Kapitulation zwingt, nicht um die ganze Weltvernunft angst und bange werden? Ist noch auf die Überwindung von Übelständen zu rechnen, wenn dieser eine, zentrale für unverzichtbar erklärt werden muß? Die tolle dumme Vokabel, wie eigens geschaffen für die Zungen von Politikern, damit sich an ihren faustdicken Behauptungen wenigstens die Sprache noch angemessen rächen kann, ist ja ein unzweideutiges Code- und Signalwort fürs Motiv des Eigennutzes, der sich, weil er sich unvermeidlich erkennbar am gesellschaftlichen Ganzen vergreift, als Gemeinnutz darstellen muß –: wie, wäre das Problem am Ende so platitüdenhaft einfach, daß wieder einmal globales Unglück nur deshalb da ist, weil ein paar tausend Schieber um jeden Preis prosperieren wollen? Also Handel und Industrie, das Heil-Hitler der Gegenwart –: der einzige Grund? Tatsächlich ist ja die Aufgabe, den Egoismus jener zu überwältigen, deren Ego für die soziale Weltharmonie längst ein gefährliches Neoplasma bildet, in diesem Jahrhundert ins Gigantische gewachsen –: man muß diesen simpelsten Nenner suchen, um zu erkennen, wie restlos alle hochgestochenen Kritischen Theorien in ihr aufgehen; man muß diesen kompliziertesten Nenner finden, um zu sehen, was alles sich im Widerstand der primitiven Eßgewohnheit sträubt – was alles von ihr in wachsender Perversion gegen Vernunft und Leben vertreten wird.
Schließlich auch noch gegen »die Moral«, die aber ja immer erst nach dem Fressen kommt und hier besonders wenig Chancen hat, weil sie in der Konstitution der Groß-Fresser gar nicht vorkommt (das sehr konkrete Warum folgt später) –: lohnt es sich überhaupt, sie mit ins Feld zu führen? Daß der Mensch edel sei, hilfreich und gut, so ganz im Allgemeinen, konstatiert ja leider kein Faktum, sondern eine mehr denn je offene Forderung; gleichwohl mag er gelegentlich mitleidig noch fühlen, und namentlich der deutsche Mensch gilt, so wenig lieb er der Umwelt auch sein kann, vergleichsweise doch als tierlieb –: er hat gegen das Robbenmorden viele Biefe nach Kanada geschickt; die Zahl der Wesen, die er niedlich findet, hat zu-, der Froschschenkelverzehr abgenommen; und gegenüber dem Jammer jener Tiere, die das sachbeschreibende Untier als hochwertige Pelzträger definiert, ist immerhin soviel Hör-Empfindlichkeit entstanden, daß es sogar schon die in Breitschwanz oder Chinchilla dahergespreizt kommenden, weit weniger hochwertigen Pelzträgerinnen fühlen müssen, denen es ohne Nachhilfe nicht gegeben ist, die 35 bzw. 150 Pro-Stück-Tierleichen auf der gepflegten Haut zu spüren. Man möchte, als Idealist, der man nun einmal ist, ja gern daran glauben, es warte auch in Deutschland irgendwo am Ende der Evolution das Bewußtsein, daß dem von Tod und Todesnutzung lebenden Massentierhalter eine Bannmeile des Ekels gebührt wie ehemals dem Henker und daß, wer lebendige, mitlebende Wesen so behandelt wie er, in der moralischen Ordnung tief unter der Küchenschabe rangiert; vielleicht versteigt sich die Entwicklung, und sei es ultimo, dann gar so weit, daß sich selbst der Fleischfresser als Auftraggeber und Hehler eines Verbrechens begreift. Man möchte daran glauben – und ist dankbar für jedes kleine Indiz –: zeigte nicht der derzeitige Landwirtschaftsminister doch Zeichen leichter Verlegenheit, als er auf dem Bildschirm die aus Brüssel mitgebrachten EG-Normen für die Käfigmaße der Batteriehühner verkündete? – kam sie, diese Verlegenheit, nur aus dem Umstand, daß sie, diese neuen Maße, erneut seine Entbehrlichkeit dartaten? – war sie nicht doch ein ganz kleiner Widerschein, ein letztes, noch nicht ganz aufgelöstes Spurenelement jener Moral, deren Unglück es eben nur ist, grundsätzlich nach dem Fressen zu kommen? Man klammert sich an noch die letzten Bagatellen und sieht etwa hoffnungsvoll, wie immer notwendiger für den Absatz die Umwandlung des toten Fleisches in eine Verpacktheit ist, in der man die Herkunft vom lebenden Tier nicht mehr wahrnimmt. Aber dann sieht man das Ganze zugleich in eine Zeitung eingewickelt, in der ebenso munter wie unbewegt gemeldet wird, daß in Amerika die Züchtungsmöglichkeit federloser Hühner erforscht werde – oder, zum neuesten Schreien, genveränderter Schweine, und alle Hoffnung fliegt wieder vom Tisch –: nein, es ist nichts mit der Moral; es mangelt, wohin man auch blickt, schon am elementarsten Gespür dafür, wie überflüssig solche Entdeckungen, einschließlich derjenigen Amerikas selbst, immer waren und immer wären; man wird daran erinnert, daß man in einem Gemeinwesen lebt, das sich für den Fall seiner von ihm so genannten Verteidigung auf Taten vorbereitet hat, die schon jetzt verhindern, es noch unter die gesitteten Nationen zu rechnen. Vom Tisch mit der Moral; – kehren wir zu den Realitäten dieses Gemeinwesen zurück:
Sie werden in körperenge Kästen gezwängt, damit sie sich nicht bewegen können, auf Wochen und Monate; wo auch ihr kleinstes Zappeln und Zucken die Täter noch stört, gießt man ihnen einen Gipspanzer um; damit sie nicht schreien und beißen, schneidet man ihnen die Stimmbänder durch und vernäht ihnen die Mäuler –: man verätzt ihnen den Magen, die Augen, die Haut; infiziert sie gewaltsam mit den greulichsten Krankheiten, die sie von allein nie bekämen; treibt sie mit Nervengiften in Krämpfe oder Wahnsinn; vergiftet und vergast sie mit den aberwitzigsten Substanzen; implantiert ihnen Elektroden ins Gehirn und jagt ihnen Stromstöße in sämtliche Lebensfunktionen; man zertrümmert ihnen die Knochen, verbrüht und verbrennt sie, setzt sie in Eisbäder und Hitzekammern; man erprobt Waffenwirkungen an ihnen bis hin zum kompletten ABC, mit dem die ewigen Klippschüler der Weltgeschichte die Weltverwüstung präparieren –: dies alles bei lebendigem Leibe, meist ohne genügende Anästhesie; und reicht der eine Versuch nicht aus, sie umzubringen, so werden sie dem nächsten überantwortet; eine Überlebenschance gibt es nicht.
Es ist, abermals, von Tieren die Rede, nicht von Menschen, – von jenen Tieren, zu denen der Mensch, gegen alle Widerstände deformativer Ideologien, sogar ein weitgediehenes Verwandtschafts- und Freundschaftsbewußtsein entwickelt hat: vorab von Hunden und Katzen, den Gefährten der einsamen Kindheit, den Gefährten des wieder-einsamen Alters. Und es gibt keinen Zweifel, wie das zu qualifizieren ist, was ihnen in den Großlabors und Versuchsanstalten von Industrie und Medizin und Militär angetan wird: Es ist ein gigantischer Verstoß gegen alles, was die Sorte Homo sapiens im mühseligen Verlauf ihrer geschichtlichen Evolution an Benehmen gelernt hat: der Zusammenbruch einer ganzen Werte-Ordnung, an der Jahrtausende gearbeitet haben: eine Perversion, in der längst nicht mehr nur der einzelne Täter entartet ist, sondern die Tatfähigkeit der gesamten Art, die ihn zuläßt und schützt. Dies in einem Ausmaß, und aufgrund dieses Ausmaßes, das seit dem Weltkrieg, wie nach Wegfall einer Hemmschwelle, gegenüber früheren Zeiten ähnlich crescendiert ist wie die technische Zerstörungsmöglichkeit selbst und die unheimlichsten Parallelen zu denken aufgibt –: 300 Millionen Tierwesen werden weltweit pro Jahr auf eine Weise zu Tode gebracht, die nur noch mit dem Begriff eines kollektiven Sadismus einigermaßen zu fassen ist; 5 Prozent davon verbucht die Bundesrepublik für sich und uns. Das sind Zahlen, die man auf den einzelnen Lebenstag herunterrechnen muß, um sie aus jener Abstraktion zu reißen, in der die Großstatistik sich mit den Greueln verbündet, und auf die eigene Lebenszeit hinauf: in solchen Dimensionen rechnen sonst nur noch jene Leute, in deren Planungen die Einheit Megatote geläufig ist, und beides hat auch mehr miteinander zu tun, als es scheint. Die Täter firmieren durchweg unter dem ebenfalls nur noch schwer zu fassenden Begriff Wissenschaft -- einem wahren Ungetüm, einem Syndikat von Wort, das mit immer mehr Recht, seit es auf allen Bombenerfolgen des Jahrhunderts steht, zum Synonym für Menschenfeindlichkeit, für Humanitätsferne zu werden droht. Daß Deutschland im Weltproporz an der Spitze liegt, zeigt an, daß es sich nur um eine Wirtschaftsleistung handeln kann –: wie, wäre »Wissenschaft« selbst vielleicht in aller Stille eine Kategorie von Wirtschaft geworden? Was alles da im längst unheimlichen Verbund an Greueln stattfindet –, es gibt auch darüber mittlerweile die umfassendsten Informationen, in Büchern wie in den Wochen-, Tages- und Augenblicksmedien; nichts davon ist neu. Aber die Greuelhaftigkeit wächst, von Augenblick zu Tag zu Woche, auf eine unheimliche Weise eben dadurch, daß nichts davon mehr neu ist --: das kollektive Mitwissen konstituiert den Tatbestand einer riesigen Komplizenschaft, deren ungehemmtes Fortbestehen die Grundlagengeltung der Ethik selbst infrage stellt und zuletzt die Drohung mit sich bringt, die ganze Entwicklung des Abendlands mit einem welthistorischen Zynismus sondergleichen abzuschließen.
Vivisektion – heute, längst schamlos auch im Wort geworden, Tierversuche –: es ist, abermals, ein Menschenproblem, und das heißt abermals: es prallt bei seinen tastend kriechenden Lösungsversuchen unweigerlich an jener Grenze ab, wo die Herrschaft der Freßsucht beginnt – hier derjenigen einer gigantischen Industrie, deren einziges Credo das Schreckenswort Gewinnmaximierung bildet und die bei der Ausbreitung ihrer Religion mit Gift und Gas vorgeht wie frühere Heilsideologien mit Feuer und Schwert. Längst greift die Chemie, ob Agrar-, ob Pharma-, ob Strahlen-, mit ihren Freßwerkzeugen in sämtliche Lebenssysteme ein, vom Einzelwesen bis zum Großorganismus der Elemente, Erde-Wasser-Feuer-Luft; längst bahnen sich die Folgen erkennbar an, Gleichgewichtsstörungen, die bereits die Grenzen des nur Physikalischen überschreiten, zunehmende Krankheiten, Katastrophen sogar, wörtlich Zusammenbrüche der Natur-Ordnungen, und es ist abzusehen, wann die endgültige Verwüstung erreicht sein wird, wo nur noch die abgenagten Skelette von Flora und Fauna in der Sonne bleichen. Art um Art stirbt aus, und das Wort »Genozid« ist den Ohren der Jetzt- und Letztzeit längst wie der Name eines Medikaments geläufig geworden. Es ist vielleicht einer; es ist das Synonym eines Heil-Mittels, das längst von der ganzen süchtig gewordenen Welt in der Ohnmacht der Sucht geschluckt wird und sie in eine chronische Krankheit getrieben hat, die jene zum Tode ist. Schon schielt das Monstrum Wissenschafts-Wirtschaft über die Grenzen des Planeten hinaus, dessen Existenz ersichtlich ein Absehen hat, und will sich den Kosmos als Marktlücke erschließen –: jeder Seifensieder informiert aus seiner Forschung und erträumt sich am Horizont seiner ausgekochten Pläne die Teilnahme und -habe an einem Weltraumprogramm. Und für das alles, das längst rechtfertigungsunfähig geworden ist, müssen ausgerechnet die ohnmächtigsten der Opfer zur Rechtfertigung herhalten (wie sie freilich auch stellvertretend den (Offenbarungseid leisten für das, was da in Wahrheit am Werk ist, nämlich eine maßstablos skrupellose Destruktion): der monströse Destruktor beruft sich auf die Sorgfalt seiner Tierversuche, um – bei sich selbst wie bei anderen – die Erkenntnis zu verdrängen, daß er sich längst habituell einer maßstablosen Verletzung der Sorgfaltspflicht gegenüber der Menschheit schuldig macht. Alles nicht neu, alles tagtäglich mit anzusehen –: gibt es keine Machtmittel dagegen? Müßten nicht wenigstens, wo die Vernunftsgründe versagen, doch die Gegen-Habgier-Gründe der Menschheit weniger ohnmächtig sein? Sie sind es offensichtlich nicht, und es demonstriert sich, wie sehr die Perversion bereits aufs Ganze des Bewußtseins übergegriffen hat –: so sehr hier scheinbar Eigennutz gegen Eigennutz steht, das Egozentrum von Multi-Industrien gegen den Einzelnen und seine fleißige Egozentrik, so unheimlich sehr hat sich ein aberwitziger Konsens ausgebildet, der in den um sich fressenden Konzernen nur das vergröBerte eigene Ego wiedererkennt und anerkennt: – die meisten Zerstörungsprobleme sind zuletzt eben Selbstzerstörungsprobleme und pervers »von Natur«. Dabei wäre eine Welt, die alljährlich nach Schätzung der Vereinten Nationen, über 800 Milliarden Mark für militärische Zwecke ausgibt, ja wahrhaftig nicht darauf angewiesen, noch andere Selbstvernichtungsquellen zu erschließen; sie könnte auf die Chemische Industrie verzichten. Wie kommt es, abermals, daß alle ihre Vernunftsgründe nicht ausreichen, jene Barriere der Grundtriebe wenigstens da zu durchbrechen, wo sie sich mit ihnen verbünden konnten?
Nun gibt es natürlich ein Tier-Schutzgesetz –: es wurde I933 erstmals ausformuliert; es wurde 1972 erneuert, ohne wirklich neue Verhältnisse zu schaffen; es ist dann endlich 1986 abermals novelliert worden, ohne wirklich neue Verhältnisse zu schaffen –: es ist ein Klebe- und Kleisterwerk – eine Flick-Schusterei, deren sich die Legislative schon jetzt vor dem Mehrheitsempfinden der Rechtsgemeinschaft in Grund und Boden schämen muß. Auf der einen Seite reguliert es, wohl nötig genug, die kleine Kriminalität des Bürgers gegenüber den ihm anvertrauten, meist auf Gedeih und Verderb ausgelieferten Tieren, und da hat es einen durchaus sympathischen Klang; auf der anderen Seite aber hat es a priori die Maschen schon eingestrickt, durch die ihm die Großkriminellen der Wirtschafts-Wissenschaft schlüpfen sollen, und da klingt es auf eine Weise zynisch, die kaum ein anderer Gesetzestext für sich in Anspruch nehmen kann. Was darin aufbricht, ist das alte, immer heikle Dilemma der Vereinbarkeit von Verbot und Lizenz, das hier jedoch das gewohnte, ebenso alte und heikle von »Theorie« und »Praxis« weit hinter sich zurückläßt. Daß genehmigungsberechtigte Behörden durch bloße Inkompetenz Rechtsschäden bewirken, ist ein traditionsreiches deutsches Schicksal; daß genehmigungspflichtige Handlungen bei ihnen jedoch derart formular-automatisch zum Rechtsschaden durchzusetzen sind, sobald nur ein selbstverliehener Institutsname mit ein paar akademischen Titelträgern dahinter steht (die es doch wie Sand am Meer gibt oder wie Kalk im Gehirn), das ist gerade in Deutschland doch hocherstaunlich, wo den Rechtsbestimmungen durch die Behördenbeschaffenheit sonst eher eine Übergenüge geschieht. Die Genehmigungs-Praxis der Tierversuche läßt etwas erkennen, was man ohne weiteres zuletzt einen Rechtsskandal nennen muß; aber dieser hat insofern erst nicht seinesgleichen, als er »in der Theorie« bereits vorprogrammiert ist. Denn wenn auch die Exekutive seit Hammurabis Zeiten den Spielplatz aller nur möglichen Fehlbarkeiten und vorsätzlichen Vereitelungen stellt –, bei der Legislative, die den Rechtsgüterschutz auf den Zweck einer definitiven Undurchkreuzbarkeit hin formuliert, ist der Vorsatz zu Fehlbarkeit und Vereitelung rechtshistorisch doch ungewohnt. Bei elementaren Verboten, die dem Schutz des Lebens selber als des höchsten Rechtsguts dienen und in ihm den Mittelpunkt der Rechtsidee selber sichern, kann es die durchkreuzende Ausnahme nicht geben; mehr als vor jedem Verbot sonst, ja schlechthin absolut gilt vor ihnen für alle Mitglieder der Rechtsgemeinschaft jene Gleichheit, die das Grund-Gesetz selber ist und die Basis aller, zumal der demokratischen, Rechtsvorstellungen. Freilich, eine Ausnahme durchbricht gewohnt auch die Prinzipien, und es ist die älteste Perversion, gegen die sich das Rechtsdenken noch kein Heilmittel hat verschreiben können: der Kriegsfall nämlich, in dem der Staat – ohne Rechtsauflösung aus positiver Machtvollkommenheit rechtsgelöst handelnd - sein elementares Tötungsverbot für sich selbst ins Gegenteil aufhebt und dieses als Konzession an eine privilegierte Personengruppe vergibt, die dann ihrerseits die restlichen Personen in die Pflicht nimmt und sie – man kann den ungeheuerlichen Tatbestand gar nicht mehr abgehoben formulieren – völlig außer Rand und Band treibt; die Folge ist am Ende regelmäßig allgemeiner Mord und Totschlag und – jedenfalls in Deutschland, das sich darin mit Vorliebe übernimmt – der Zusammenbruch des Staates, der dann wieder von vorn anfängt. Das stehe nun so jämmerlich dahin, wie es ist (und erinnere allenfalls daran, daß sich das Strafrecht heute, nach einer langen, in seinen Revisionen gespiegelten Entwicklung, prinzipiell nicht mehr als Sachwalter einer wie immer begründeten ethischen Wertordnung versteht, sondern als den einer sozialen: daß es nicht das Tun des Täters, sondern lediglich den durch die Tat entstehenden Sozialschaden negativ qualifiziert – und somit weniger als je im Prinzip behindert ist, einem archaischen Muster zu folgen und durch Ausgrenzung des erklärten Feindes aus der Rechtsgemeinschaft diesen Sozialschaden und damit die eigene Schutzpflicht gegenüber selbst dem höchsten Rechtsgut Leben zu verneinen); – das stehe dahin – und ist erträglich nur als der eine und einzige Ausnahmefall überhaupt, gegen dessen Eintritt einstweilen nur die politischen Mittel sich stemmen können und müssen. Was aber, wenn der Staat diese eine Ausnahme um ihre Einzigartigkeit bringt –, wenn die Aufhebung eines elementaren Verbots zugunsten einer privilegierten Personengruppe zur Ermessensfrage von Behörden wird –, welche Mittel wären gegen sie zuständig? Es gibt, wie zwischen Krieg und Frieden, keine Zwischenstufen zwischen Leben und Tod, und wo in solchen Grundfragen ein »Jein« im Gesetz steht, ist das Gesetz selbst, gelinde biblisch gesagt, vom Übel. Es bedarf, das Tierschutzgesetz, noch ehe es in Kraft getreten ist, bereits der Revision –: was für ein erbärmliches Schauspiel! Was für ein hochbedenkliches auch! Denn darüber ließe sich längst lange meditieren, und beklemmend genug: was in diesem »Jein« am Ende alles zum Ausdruck kommt, was von ihm eingestanden wird --: wie, befinden wir uns, wenn die Wissenschaft die eine Ausnahme beantragt und ihr Privileg zum Rechtsbruch anmeldet, etwa per Definition in einem Kriegszustand? Wer sich das Bauwerk der Zentralen Tierlaboratorien der Freien Universität Berlin vor Augen bringt, die hierin wie auch andere Lehr- und Forschungsinstitute allzu frei gelassen ist, der sieht sich, hinreichend metaphorisch, einem Schlacht-Schiff aus Beton gegenüber, das nach allen Seiten ringsum Geschützrohre ausgefahren hat, und gerade deren Betongestalt zeigt nur an, daß sie symbolisch für ein Anderes ragen --: aus diesen Rohren wird längst unablässig auf das Lebendige ringsum geschossen. Die Architektur, deren Unsäglichkeiten sich aufs Freiheitsrecht hinausreden, dem Selbstverständnis ihrer Zeit Ausdruck zu geben, tut es ja in der Tat, hier wie anderswo, und man kann sich nur noch über die unbefangene Direktheit wundern, mit der sie es tut –: manchmal gibt sie, die uns Land- und Stadtschaften seit dem Krieg exemplarisch verwüstet hat, das Erz- und Kardinalmotiv des von ihr verstandenen Zeit-Selbst in einem einzigen konzentrierten Paradigma preis: Lebens-Feindschaft, Lebensfeindlichkeit. Kriegszustand, Kampf gegen das Lebendige bis aufs Skalpell –: zuletzt reicht das Paradigma, das für die Tierversuche steht, noch weit über diese hinaus – hinein in eine Todessymbolik, für die auch die Tierversuche wiederum nur paradigmatisch stehen –: was sich in ihnen vollzieht, meint längst einen Versuch an der Menschheit, was sich in der Ohnmacht vor ihnen ankündigt, ist der Lebens-Tod selbst. Wie kommt es, daß, wo die Natur-Wissenschaften wachsen, die Natur welkt und vergeht? Wie erklärt es sich, daß bei den gewachsenen Natur-Wissenschaften seit geraumer Zeit »praktisch« und »am Ende« immer bloß noch eine Bombe herauskommt? Was die Industrie-Wissenschaft, was die Wissenschafts-Industrie produziert, ist fraglos – die erst nur ersten Ergebnisse zeigen es schon – die Zeit-Bombe für den ganzen Planeten und wird wahrscheinlich einmal dessen alles übergreifender Untergang sein, der totale Fraß überhaupt; gegen sie und diese ihre Megakriminalität, neben der sich alle bekannten Delikte wie Lappalien ausnehmen, wäre erforderlich, wäre möglicherweise wirksam nur ein alles übergreifender Gesetzesaufwand, wie ihn die Welt, leider, noch nie gesehen hat... Was heißt es, zuletzt, wenn ein Gesetz sich in sich selbst vor seiner Aufgabe ohnmächtig erklärt, – was heißt es, wenn ein Gesetz, das der Todesabwehr dienen will, seine Souveränität zurücknimmt und sich die Grenzen seiner Abwehr von den Verursachern des Todes selber setzen läßt?
Dies alles sind Moralfragen – Fragen an ein meta-physisches Verständnis –: sind sie noch realistisch? Oder sind sie es schon wieder und erst recht? Die Moral, deren Unglück es ist, grundsätzlich nach dem Fressen zu kommen –: sie kommt erst nach auch dem übertragenen Fressen, dem totalen Fraß, und ihr letztes Unglück wird sein, daß sie »dann« überhaupt nicht mehr kommt, weil dann überhaupt nichts mehr kommt. Ließe sich ihr denn doch noch mit Erfolg ein Vor-Recht einräumen vor der ruinösen Werteordnung der Realität, der Status wenigstens einiger früherer Zeiten, deren relativen Ruin sie doch auch nicht hat verhindern können, eine fast hoffnungslos letzte Chance? Läßt sie sich überhaupt beiziehen als Maß der nüchternen Beurteilung, ohne daß sich die ihr längst gesellschaftlich verliehene Lächerlichkeit verderblich über das Thema breitet –, müßte man sich, dessen Ernst zu bewahren, nicht peinlich bedacht gerade im Rahmenraum des großen Realitätenkabinetts halten, in dem die nüchterne Beurteilung doch offiziell als einzig und dauernd wohnhaft gemeldet ist? Wäre sie, die Moral und ihre verlangte Priorität, schließlich nicht gar noch »gegen die Natur« selber, deren sie sich annehmen soll? Die Besitzer des Realitätenkabinetts, die versierten Betreiber des Weltlaufs, können auf den Widerspruch gar nicht kregel genug verweisen, und der allgemeine Befund sieht nicht schlecht für sie aus: die menschliche Lebewelt des Fressens und Gefressenwerdens funktioniert ja in der Tat nach dem Grundprinzip der allgemeinen animalischen; sie hat ihr höchstens, neben erheblicher Grausamkeit, die Schläue der Rationalisierung, in beiderlei Sinne, voraus. Das Alias-Wort »Humanität«, das mit vielen prinzipiell guten Gründen im – vergleichsweise ausgezeichneten – Grundgesetz nicht vorkommt und im Strafgesetz erst recht nicht –: beschreibt es nicht eine Lebensauffassung, die in der ganzen Menschheit zuletzt nicht vorkommt? Zumindest nicht mehr, zumindest nicht mehr in den normierten Gesellschaften –: seine Tradition ist, unheilvoll damit verkettet, ersichtlich in die Jahre gekommen, die man der Religion als erster ansah; längst leistet das Jahrhundert seine Meineide auf keine Bibel mehr, längst schwört es mit gespreizten Händen. Es gibt, so scheint es, realistisch kaum noch eine Sicherung vor dem Durchbruch der Natur gegen die Natur, des Tierischen gegen die Tiere, des Menschen gegen die Menschlichkeit. Welche ließe sich ersinnen, welche andere als die moralische sich hochhalten? Die Vernunft der Nützlichkeit vielleicht – jener, die in der Zerstörung die Selbstzerstörung erkennt und die Tierhaltung als Selbsterhaltung anrät? Sie versagt ersichtlich im tagtäglichen Ruin, und es ergibt sich die durchaus atembenehmende Frage, ob ein Bewußtsein, das diesen tagtäglichen Ruin, die Vernichtung des Mit-Lebens in jeder Gestalt, in Tat und Planung ungehemmt zuläßt, mit der Deformation seines Wissens um Gut und Böse nicht längst auch eine hochriskante Störung eben seiner Selbsterhaltungsbalance erlitten hat. Sie versagt ersichtlich –: wie wäre sie wiederherzustellen? Die Ehrfurcht vor dem Lebendigen, als dem tieferen Ebenbild und Anderen des Selbst, ist ein so Elementares, daß sie selbst gewichtige Äußerungen wie die Gottes in der Genesis oder Descartes im Vernunfts-Diskurs zu bloß sekundären Meinungen stempelt –: versagt sie, die elementare, vielleicht einfach darum, weil das kollektive Selbst-Verständnis längst derart von seiner Schuldigkeit durchdrungen ist, daß es unbewußt die Vernichtungsstrafe als gleichsam natürliche Folge in sich aufgenommen hat? Deformation auch der Vernünftigkeit: Der Täter, der sich als hängensreif erkennt, folgt dem Henker aufs Gerüst und ist der Schlinge mit dem hingestreckten Kopf behilflich: – hilft die Erde ihrem Lebensuntergang vielleicht darum so willig nach, weil sie sich längst als sprengensreif erkannt hat? Dies offenbar trotz, ja mit aller Rationalität und in aller Realität; nur, wo in tieferen Kausalvernetzungen gedacht wird als in denen der klappernden Wirklichkeitsmechanik und ihrer Wissensgeschäfte, ist beider Pleite bereits bewiesen, ihr Bankrott, in den sie treibt, bereits vorwarnend angemeldet. Und so hilft es denn nichts –: ihre Vernunft, über der es nach Freuds zuversichtlichem Wort keine Instanz gibt, muß sich eine solche schaffen, und sei's noch so künstlich und behelfsweise: eine sich selber übergeordnete Verfassung, in der sie eigenhändig ihre Grenzen ausschreibt; sonst ist ihr selbst nicht mehr zu helfen - der Natur, die sie vertritt, nicht gegen die Natur, dem Menschen nicht gegen den Menschen. Die »Moral«, die »Humanität«: mag sie mit grad doppeltem Recht denn gegen die Menschennatur sein, wo diese in ihr Non-plus-ultra rennt; sein wachsender Widersinn verkleinert zuletzt, doch und doch, auch den ihren und den ihrer Hoffnungsutopie. Stärker als je auch verlangt sie von sich den Anspruch, sich »das Gesetz« mitsamt seiner Straflegitimation erneut zu unterwerfen. Es gibt gesetzliche Verbrechen, die keine ethischen sind; schlimmer wären ethische, die keine gesetzlichen werden. Was in der Rechtsphilosophie »Naturrecht« heißt und als Substanzbasis aller Positiven Rechte anerkannt ist, scheint mit der Natur selbst zu zerfallen; ihr Schicksal in der Gegenwart hat auch die von ihr einst geprägten Begriffe in die Enge eines Definitionsdilemmas getrieben, in dem ihnen jeder weitere Wirkungsweg verlegt, jede Zukunft abgeschnitten ist. An ihnen vollzieht sich, literarisch gleichsam, in buchstäblicher Vorformulierung, das heraufkommende Nihil des Jahrhunderts –: wer sie aufzugeben bereit ist, gibt am Ende, als Sammelwerke der Moral, als Summenwerte der Humanität, Gesetz und Recht selber auf. – Was gibt das Tierschutzgesetz auf?
Aber dazu müssen wir nun, Exkurs, ins Detail, und es ist jenes, in dem der Teufel steckt. Denn so viele schlechte Gesetze und Vorschriften es geben mag, hoffnungslos verquaste Produktionen hoffnungsloser Amtsträger, plausibel nur als ins Demokratische verschobene absolutistische Größenwahnsform und als gelungene Selbstdarstellung einer verfilzten Staatsbürokratie, so viele schlechtweg hirnrissige »Bestimmungen« auch, die sich am kaputten Gesellschaftsalltag zu schaffen machen, ausgeheckt von zäh beamteten langsamen Brütern und Triumph nur des den Medizinern abgeguckten Ut-aliquid-fiat-Prinzips, mit dem sie auch die Wirksamkeit gemein haben, – was hier, im Tierschutzgesetz von 1986, triumphiert, ist durchaus mehr als die traditionelle Anspruchslosigkeit der Deutschen in der Wahl ihrer Politiker: Es ist ein schlechtes, schlechterdings Böses Prinzip; es ist die Selbstdurchkreuzung einer legislativen Basisidee; es ist eine Perversion sondergleichen. Daß dies vorsätzlich geschehen sei, als Gelingen einer bösartigen Absicht, gar aus individueller Habsucht, sei's nach Macht oder Geld, wäre dabei eine viel zu arglose Erklärung –: der so naheliegende Eindruck, es seien einfach ein paar Politiker von der Industrie bespendet worden, trügt mit Sicherheit – wie fast alles, was sie von sich geben. Weit schlimmer, gefährlicher, trostloser: daß sich hier eine bloße Zwangs-Handlung dokumentiert hat, die keinerlei aktuellen Impuls mehr nötig hatte, um zu funktionieren: Ausdruck einer in aller Stille gewendeten Beziehung der Mächte Staat und Wissenschaft, Staat und Wirtschaft, Staat und Wissenschaftswirtschaft: Einblick gewährend in den Zustand des gleichsam kollektiven Unbewußten dieser Beziehung: Einblick in einen Tat-Bestand, der leicht den ganzen Staat um seinen Bestand bringen kann und für den die Unzucht mit Abhängigen des StGB-Paragraphen 174 eine nur viel zu galante Metapher darstellt. Das Tierschutzgesetz schützt die, vor denen es die Tiere schützen sollte und wollte, und schreibt ihre Rechte fest: – man braucht, wenn man es durchschaut hat, keine große Phantasie mehr, um im Abstrakten zu erschauen, welche Ohnmacht der ganz allgemeine Schutzauftrag des Gesetzgebers hier einbekennt.
Dabei hebt das Gesetz wahrhaftig mit aller Macht an – mit Worten nämlich, wie sie in juridischen Zusammenhängen selten erklingen und in diesem Zusammenhang so auch noch nie erklungen sind:
GRUNDSATZ: ZWECK DIESES GESETZES IST ES, AUS DER VERANTWORTUNG DES MENSCHEN FÜR DAS TIER ALS MITGESCHÖPF DESSEN LEBEN UND WOHLBEFINDEN ZU SCHÜTZEN. NIEMAND DARF EINEM TIER OHNE VERNÜNFTIGEN GRUND SCHMERZEN, LEIDEN ODER SCHÄDEN ZUFÜGEN.Nicht ausgeschlossen, daß Rechtsphilosophen hier beklommen zumute wird. Denn auffällig ist, wie unbefangen der Gesetzgeber in diesem Text seine sonst wohlbegründete Zurückhaltung verläßt, das sittliche Verhalten selber zum Rechtsgut zu machen, und vollends die Mitgeschöpf-Definition könnte die Phantasie auf abenteuerliche Bahnen leiten – bis hin zu der Überlegung, ob darin nicht geradezu die Anerkennung eines Mitglieds-Status in der Rechtsgemeinschaft zum Ausdruck kommt –: wie viele Haare wären zu spalten, sähen die Tiere sich in der Lage, vor dem Bundesgerichtshof oder gar dem Bundesverfassungsgericht als Kläger aufzutreten! Höher jedenfalls lassen sich Motivation und Selbstverpflichtung in der Sphäre der Ethik schwerlich ansetzen –: das Tier als Mitgeschöpf – die Verantwortung des Menschen... Und auch entschiedener kaum, bedingunsloser: Niemand darf Schmerzen, Leiden oder Schäden... Höchstens die Einschränkung mit dem vernünftigen Grund könnte einen schon hier, im Grundsatz, leicht irritieren –: die Geschichte der Vernünftigkeit in Deutschland ist ja nicht von einer Art, daß man sich vor allen Zweifeln in Sicherheit wiegen mochte. Niemand darf – nur der Besitzer eines vernünftigen Grundes –: wer mag dieser Niemand sein – wie häufig kommt diese Form des Besitzes vor? Daß vor dem Gesetz, vor dem alle gleich sind, die Besitzenden etwas gleicher sind, ist eine alte Sache; die Rechte wachsen mit dem Vermögen, während die Verantwortung des Menschen parallel dazu abnimmt. Nur, wer sind diese Weniger-Verantwortlichen, Mehr-Berechtigten? Der Text legt, mit sehr vernünftigen Gründen, eine größere Halde Buchstaben zwischen seinen Grund-Satz und dessen Aufhebung, die sonst zu auffällig wäre; es wischt erst eine Weile die Augen, die einem nicht zu früh übergehen sollen, und geht zu vielen verantwortungsbewußten Erörterungen über:
Der Zweite Abschnitt reguliert die Tierhaltung: § 2 gebietet, in wiederum imponierenden Worten, die angemessene Ernährung und Pflege sowie die verhaltensgerechte Unterbringung und verbietet die Einschränkung der artgemäßen Bewegung –: so werden also die Kälber- und Schweinepferche, zu schweigen von den Legebatterien, nun endlich abgerissen? Oder stellt die forcierte Fleisch- und Eierproduktion den vernünftigen Grund, der den Niemand zum Dürfenden macht? Ein § 2a, neu eingefügt, verspricht das alles näher zu bestimmen und ermächtigt den betreffenden, bisher durch Betroffenheit noch nicht hervorgetretenen, Bundesminister, insbesondere Vorschriften zu erlassen; das muß wohl sein, und man hat in geübter Geduld abzuwarten, wann und wie es sein wird; – nicht jedem Grundrecht droht ja von Bundeshaus aus der Ruin des GG-Artikels 4.3, in dem auch das Nähere ein Bundesgesetz regelt, das dann das Gegenteil geregelt hat. Der ermächtigte Minister: das ist der für die Sache Ernährung, Landwirtschaft und Forsten – und nicht etwa der für das Innere, bei dem sonst die Verwaltung von Leben und Wohlbefinden der Geschöpfe anliegt; auch der für Verkehr und der fürs Post- und Fernmeldewesen werden ins Einvernehmen gezogen, weil die Tiere ja gelegentlich zur Benutzung ihrer Institutionen genötigt sind –: sie werden also irgendwann etwas vorschreiben, und es mag sogar gut und nützlich sein, auch wenn die Verantwortung des Menschen ihre Sache eigentlich nicht ist. § 3 verbietet nun allerlei, was die Tierhaltung für das Tier mit sich bringen kann: ihm (Abs. 1) Leistungen abzuverlangen, denen es nicht gewachsen ist – außer in Notfällen, was immer das heißen mag; es (Abs. 5 auf schmerzvolle Art auszubilden oder (Abs. 6) zu den Possenspielen der Gesellschaft (Film, Werbung o. ä.) heranzuziehen, wenn es dabei leidet; auch (Abs. 9) ihm durch Anwendung von Zwang Futter einzuverleiben (gemeint: die Intensivmast, vulgo »Stopfen«): - werden nun also die Gänseleberpasteten endlich aus den Freßgassen verschwinden? oder ist die Nachfrage der Fresser nach hypertrophierten weißen Fettlebern ein zureichend vernünftiger Grund, Mitgeschöpfe um Leben und Wohlbefinden zu bringen? Vernünftig ist (Abs. 8) für den Gesetzgeber jedenfalls das Jagdvergnügen, mit dem sich – ja, nicht die naturregulierenden Förster, die's nicht nötig haben, sondern – die Sultane und Bonzen der Gesellschaft die Zeit vertreiben (und noch einiges mehr als die Zeit, was aber, damit uns die Widerlichkeiten nicht ins Uferlose geraten, hier noch beiseite bleiben mag): ein Tier auf ein anderes zu hetzen, ist nur verboten, soweit dies nicht die Grundsätze weidgerechter Jagdausübung erfordern. Ein ganzes Heer von Niemanden taucht auf, die die Verantwortung des Menschen für sich unzutreffend finden dürfen, bloß weil sie einen Jagdschein haben, und man mag in die allgemeinere Perspektive, die sich zugleich auftut, wo die Grundsätze des Weidwerks den Grundsatz des Mitgeschöpfschutzes so mühelos überwältigen, gar nicht mehr blicken. Denn die nächste Masche des Gesetzes ist gleich noch weiter als diese, und durch sie schlüpft der Blick erstmals auf jenes Weite Feld der Möglichkeiten zum Entschlüpfen, das hinter der Letternhalde vor uns liegt: Wo nämlich (Abs. 2) ein gebrechliches, krankes, abgetriebenes oder altes... in Obhut des Menschen gehaltenes Tier, für das ein Weiterleben mit nicht behebbaren Schmerzen oder Leiden verbunden ist, nur zum Zweck der unverzüglichen schmerzlosen Tötung veräußert oder erworben werden darf, gilt dies nicht für... eine Person oder Einrichtung, der eine Genehmigung... für Versuche an solchen Tieren erfüllt worden ist. Die Medizin, der die Behebung von Schmerzen oder Leiden nicht zugetraut werden kann, darf beide wenigstens vergrößern, ut aliquid fiat. Angesichts solcher Leistungen vernünftiger Begründung ist man versucht, denn doch einmal den kleinen Schritt vom Mitgeschöpf zum Geschöpf selbst zu tun und sich vorzustellen, wie dessen zentrale Schutzgesetze unter diesem Prinzip aussähen: das große Du-sollst-nicht – und daneben das Aber-dies-gilt-nicht-für-eine-Person-oder-Einrichtung-mit-Genehmigung –: es ist keineswegs, zumal in Deutschland, nicht auszudenken.
Der Dritte und Vierte Abschnitt (§§ 4-6) befassen sich mit dem Töten von Tieren und mit Eingriffen an Tieren, genauer gesagt: von und an Wirbeltieren. Nun ist die Lebensbeendigung von Lebewesen etwa in der bürgerlichen Tierhaltung ein ganzer Problemkreis für sich, der hier aber gar nicht ins große Auge gefaßt wird: nirgends findet sich auch nur eine leise Ermahnung des Schutzgesetzes, den Mitgeschöpfen den gleichen natürlichen Lebensausklang zuzubilligen, den die Apparatemedizin bei den Geschöpfen mit allen Mitteln, selbst den skrupellosesten, hinauszuziehen versucht und vor dem sie sich ebenso allmächtig gibt wie ohnmächtig vor dem der Tiere – beides nur gleicherweise zu Unrecht. Was vielen Bauern der Vergangenheit sogar bei den Nutztieren noch selbstverständlich war, die Gewährung des »Gnadenbrots«, ist der nur auf ihren Nutzen erpichten Gegenwartsgesellschaft zur Gewohnheit des schnell gewährten »Gnadentods« geworden, und die veterinären Spritzen liegen jederzeit bereit – denn: Ein Wirbeltier töten darf nur, wer die dazu notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten hat (§ 4.1), wozu ein abgeschlossenes Medizinstudium die ideale Voraussetzung bildet. Immerhin darf die Tötung generell nur unter Betäubung erfolgen – oder sonst, soweit nach den gegebenen Umständen zumutbar, nur unter Vermeidung von Schmerzen –, und selbst im Rahmen weidgerechter Ausübung der Jagd sollen nicht mehr als unvermeidbare Schmerzen entstehen –: wie gut eigentlich schießen unsere Ministerpräsidenten und Diplomaten? Sind ihre Kenntnisse und Fähigkeiten auf diesem Gebiet größer als die uns bekannten? Können sie mit dem Nickfänger so selbstverständlich umgehen, wie sie's mit sagenwir den strategischen Marschflugkörpern tun? Sind die von ihnen gegebenen Umstände den Mitgeschöpfen sei zumutbar wie uns? Daß ein Gesetz unablässig Fragen weckt, statt Antworten zu geben, und sich ebenso unablässig im Einerseits-Andererseits bewegt, statt das Entweder-oder zu klären, ist ein miserables Vorzeichen für die Exekutive; es wird zu seiner Durchkreuzung noch mehr anhalten als sein Wortlaut selbst. Für das Schlachten eines warmblütigen Tieres, den zweiten, größeren Problemkreis für sich, gibt es nur blamabel wenige Worte (als schriee es aus den Schlachthöfen der Fraßgesellschaft nicht jeden Tag gellender zum Himmel!): es darf nur stattfinden, wenn das Tier vor Beginn des Blutentzugs betäubt worden ist; mehr Worte finden die Ausnahmen, nämlich die Notschlachtungen (die so heißen, weil die Gewinnsucht des Tierhalters im Fall des Unterbleibens in Not gerät), wo die Betäubung nach den wiederum gegebenen Umständen nicht möglich ist, – und die Bedürfnisse von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften, die hier einmal mehr aus der Verantwortung des Menschen entlassen werden und ihren ideologischen Urväterhausrat stillschweigend als vernünftigen Grund anerkannt sehen. Die Voraussetzungen näher zu regeln, auch bestimmte Tötungsarten und Betäubungsverfahren allgemein, auch das Schlachten von Fischen und anderen kaltblütigen Tieren, wird in § 4b wieder der Bundesminister ermächtigt –: er wird die Regelung kaltblütig vornehmen, und ob wenigstens eine kleine Barriere gegen das derzeitige Elend dabei herauskommt, steht noch weiter dahin. Ebenfalls auf Rechtsverordnungen des Ministers bleiben die Tiere bei den (§ 5) allzu sachlich so genannten Eingriffen angewiesen, die vom Enthornen von Kleinrindern bis zum Schnabelkürzen beim Geflügel reichen: nach welchen Verfahren und Methoden die Durchführung von Maßnahmen dieser Art erfolgen soll, wird der Verordner irgendwann vorschreiben – soweit dies zum Schutz der Tiere erforderlich ist. Strikt verboten ist jedenfalls (§ 6) das vollständige oder teilweise Amputieren von Körperteilen oder das vollständige oder teilweise Entnehmen oder Zerstören von Organen oder Geweben eines Wirbeltieres – jedoch: Dies Verbot gilt nicht, wenn der Eingriff etwa für die vorgesehene Nutzung des Tieres unerläßlich ist oder Jemand ihn, etwa, für das Anlegen von Kulturen (ach, welch ein Wort!) oder die Untersuchung isolierter Organe, Gewebe oder Zellen erforderlich findet –: das Mitgeschöpf ist die Nutzsache geblieben, die es immer mehr geworden war im Verlauf der abendländisch angelegten Kultur –: soll man weiterdenken, was das auch für die Geschöpfe untereinander längst heißt? Für wen eigentlich gilt das Verbot, das imgrunde nur noch eine riesige Lizenz formuliert? Damit ganz klar ist, wer auch hier die Genehmigung schlechthin hat, den unbezweifelten Anspruch auf den Vernünftigen Grund, das Generalprivileg für die Verantwortungslosigkeit des Menschen, ist dem Ganzen eigens ein § 6a angefügt, und er lautet, lakonisch und felsenfest: Die Vorschriften dieses Abschnitts gelten nicht für Tierversuche und für Eingriffe zur Aus-, Fort- und Weiterbildung. Wir haben die Halde hinter uns; wir sind der gesetzlichen Selbstaufhebung des gesetzlichen Grundsatzes ganz nahe. Denn nun folgt der Fünfte Abschnitt:
Tierversuche (§§ 7-9). Und es wird sehr zaghaft gleich voran ausgedrückt, was das sei: Eingriffe oder Behandlungen an Tieren nämlich zu Versuchszwecken, die mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für die Tiere verbunden sein können: – da weiß das allgemeine Publikum unterdessen schon mehr als der Gesetzgeber, der sich vermutlich auch nur unwissend stellt: die Möglichkeitsform steht für eine Wirklichkeit, deren diese Beschreibung wahrlich spottet. Trotzdem gehen beide natürlich weiter, die Beschreibung wie die Wirklichkeit – in einer Stilgestalt, die konsequenterweise auch mit unvermeidlichen Leiden und Schäden für die deutsche Sprache verbunden ist. Nach dem, was die Tierversuche sind, folgt das, was sie sein sollen –: unerläßlich sollen sie sein (zu Zwecken, über die noch gesondert zu reden sein wird) und ethisch vertretbar (dies nicht etwa als Versuche, sondern als Schmerzen, Leiden oder Schäden im Hinblick auf den Versuchszweck): hier kann die Sophistik voll in ihre Rechte treten, und sie dürfte es kaum schwer haben, zu jenem traditionellen Punkt vorzudringen, wo der Zweck die Mittel schlechthin heiligt. Das ist, als Genehmigung, dann gegeben, wenn die angestrebten Ergebnisse vermuten lassen, daß sie für wesentliche Bedürfnisse von Mensch oder Tier einschließlich der Lösung wissenschaftlicher Probleme von hervorragender Bedeutung sein werden – irgendwann, nötigenfalls in grauer Nachzeit –: ach, wer wollte den Medizinern, was immer auch sonst, wohl die Fähigkeit zum Anstreben und Vermuten absprechen! Wann also dürfen Versuche nicht durchgeführt werden? Daß die Lösung wissenschaftlicher Probleme mit in die wesentlichen Bedürfnisse auch der Tiere eingeschlossen wird, fällt bei der Betrachtung dieser denkerischen Pleite nur gleichsam nebenbei mit an –: ja, werden unsere Gesetze eigentlich von sitzengebliebenen Tölpeln formuliert – oder sind da, einzige Alternative, pure Heuchler und Blödverkäufer am Werk, die bloß gelegentlich verunglücken? Wenigstens zur Entwicklung von Tabakerzeugnissee, Waschmitteln und dekorativen Kosmetika sind Tierversuche grundsätzlich verboten (§ 7.2.5) – einerseits; andererseits wird wieder der Bundesminister ermächtigt, Ausnahmen zu bestimmen, soweit es erforderlich ist, um konkrete Gesundheitsgefährdungen abzuwehren –: es bedarf wahrhaftig keiner sonderlichen Phantasie, um den Entwicklungspunkt des Desasters zu sehen, an dem sich die Regel von der totalen Ausnahme bestimmen lassen muß. Auch Tierversuche zur Entwicklung oder Erprobung von Waffen, Munition und dazugehörigem Gerät sind verboten (§ 7.2.4), und man möchte wenigstens hier einmal kurz aufatmen – nach all den jüngst noch öffentlich gewordenen Grauensnachrichten aus jenem Militärkreis, wo der Untergang des Abendlandes generalgeprobt wird. Aber das Andererseits fehlt auch hier keineswegs in diesem fatalen Jein-Gesetz; es steht nur eine weitere Buchstabenhalde entfernt, in § 15.3: da obliegt die Durchführung für Tiere, die sich im Besitz der Bundeswehr befinden, wem? Wem sonst als den zuständigen Stellen der Bundeswehr –, und der Bundesminister der Verteidigung beruft eine Kommission zur Unterstützung der zuständigen Dienststellen bei der Entscheidung über die Genehmigung von Versuchsvorhaben, die doch im Einerseits eben noch verboten waren – denn welche anderen Zwecke könnten wohl wiederum in die Zuständigkeit der Militärs fallen als jene der Entwicklung oder Erprobung von Waffen, Munition und dazugehörigem Gerät? Ist nun also Schluß mit der albhaften Vorstellung, daß man Tieren die Glieder wegsprengt, um zu sehen, was man Menschen im Ernstfall, gegen den dies nur ein Scherz ist, alles zumuten könnte – mit dem beruhigenden Resultat, daß alles halb so wild ist und man auch mit halb weggerissenem Gesicht noch weiterleben kann? Oder sollen wir uns vorstellen, es gehe um das Problem, wie lange das Mitgeschöpf als niedliches Maskottchen im Bunker der Geschöpfe bei Wohlbefinden bleibt? Man muß den ganzen gräßlichen Wortqualster in seine Stücke zerlegen, um zu erkennen, wozu die vom Verteidigungsminister zu berufende Kommission zu dienen bestimmt ist, nämlich zur Unterstützung, nämlich der zuständigen Dienststellen, nämlich bei der Entscheidung, nämlich über die Genehmigung, nämlich von Versuchsvorhaben, die verboten sind. Bei dem allen sind natürlich die Sicherheitsbelange der Bundeswehr zu berücksichtigen – falls die Tiere zum Gegenangriff vorgehen oder gar zur Vorwärtsverteidigung, so daß die grundsätzlich auf Schutz und Wohlbefinden geeichte Institution gar nicht anders kann, als mit Waffen, Munition und dazugehörigem Gerät zurückzuschlagen; – oder ist mit dem Nebelwerferwort Sicherheitsbelange bloß gefordert, auch diese – wie andere – gesetzlich unterstützten Vorhaben der Einrichtung als Geheime Bundessache zu behandeln? Daß sie schon vorsorglich das Licht scheuen, wäre ja berechtigt genug; auch die Ärzte haben schließlich ihr Geheimnis. Beide zusammen werden die Mitgeschöpfe wie die Geschöpfe noch teuer zu stehen kommen.
Denn dieses Gesetz ist ein reines Ermächtigungsgesetz: das zeigt sich gerade da, wo es den Tätern die Tat zu erschweren unternimmt. Tierversuche bedürfen nämlich generell (§ 8) der Genehmigung durch die zuständige Behörde, und das scheint a priori nichts Kleines zu sein, wenn man deutsche Behörden kennt. Sie wird, diese Genehmigung, auch nur erteilt, wenn ja, die Binsenweisheit müßte eigentlich völlig ausreichend sein: wenn – die Voraussetzungen vorliegen, nämlich dieses Gesetzes. Aber es steht noch ein bißchen mehr da: die Genehmigung wird erteilt, wenn – wissenschaftlich begründet dargelegt ist, daß – die Voraussetzungen vorliegen. Der kleine Unterschied durch diesen Zwischensatz ist groß --: er besagt nichts Geringeres, als daß die Prüfung der zuständigen Behörde sich nicht auf das Vorliegen der Voraussetzungen erstrecken soll, sondern lediglich auf dessen Darlegung, sprich: schriftliche Behauptung; die Bedingung des wissenschaftlich begründet erfüllt dabei mühelos ein Mundvoll medizinischen Jargons. Geprüft wird, Behörden-Ideal, bloßes Papier, nicht die Sache – bloß eine bestimmte Form, nicht der Inhalt. Dieser so unauffällig daherkommende Zentralsatz hat eine Vorgeschichte, und sie ist so blamabel wie er selbst. Der Bundesrat nämlich erkannte in der Darlegung des Regierungsentwurfs die tatsächlichen Voraussetzungen als der behördlichen Prüfung entzogen und schlug vor, den windigen Zwischensatz zu streichen, um die Vorschrift eindeutig zu machen; der Bundestag dagegen wollte so weit nicht gehen, war aber zu einer Verschärfung der Formulierung bereit: danach sollte nun nicht nur dargelegt, sondern glaubhaft gemacht werden, was zwar weniger als Beweisen, jedoch mehr als Darlegen bedeute – und zuletzt gar nichts bedeutet: – was haben Mediziner, allein durch ihren Brustton erfolgreich, nicht alles an Unsinn schon glaubhaft gemacht! Der Bundesrat bedauerte denn auch, die inhaltliche Prüfung so nicht gewährleistet zu sehen; zur Kompromißbildung wurde der Vermittlungsausschuß angerufen, und dessen Vorsitzender Dr. Langner, CDU-Abgeordneter, Volljurist, präsentierte nun als Ergebnis seiner Bemühungen, die Bundesrats-Bedenken gegen das Glaubhaftmachen auszuräumen, die alte Darlegung – gegen die sich dann auf einmal weder im Bundesrat noch im Bundestag mehr eine Mehrheit fand: ein Vorgang, den der hessische Staatsminister Armin Clauss als gezielte Irreführung und Spiel mit gezinkten Karten qualifizierte: das makabre Ergebnis sei, daß das Gesetz in diesem Punkt ohne die Anrufung des Vermittlungsausschusses immer noch besser gewesen wäre als jetzt. Makaber ist das Ergebnis des ganzen Gesetzes: eine Tor- und Türöffnung für jede Art Irreführer und Kartenzinker selbst. Das erweist sich mit jedem Schachtelsatz mehr, mit dem die Voraussetzungen zur Genehmigung der Tierversuche definiert werden – wenn etwa (§ 8.3.3) die erforderlichen Anlagen, Geräte und anderen sachlichen Mittel vorhanden sowie die personellen und organisatorischen Voraussetzungen für die Durchführung gegeben sein müssen, also sichergestellt ist, daß das sonst verbotene vollständige oder teilweise Entnehmen oder Zerstören von Organen oder Geweben (§ 6.1) auch zünftig mit einem Skalpell durchgeführt wird und nicht etwa stillos mit dem Metzgermesser. Es erweist sich etwa, wenn man nur einem der Sätze durch seine Verweisungen folgt –: etwa da, wo (§ 8.2.3) im Antrag darzulegen ist, daß die Voraussetzungen des Absatzes 3 Nr. 5 vorliegen, nämlich (§ 8.3.5) die Einhaltung der Vorschriften des § 9 Abs. 1 und 2 und des § 9a Abs. 1 erwartet werden kann, nämlich (§ 9.1-2) Tierversuche an Wirbeltieren, ausgenommen Versuche nach § 8 Abs. 7 Nr. 2, nur von Personen mit abgeschlossenem Hochschulstudium und so weiter durchgeführt werden, ausgenommen nämlich (§ 8.7.2) Versuchsvorhaben, die... der Erkennung insbesondere von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder körperlichen Beschwerden bei Mensch oder Tier oder der Prüfung von Seren oder Impfstoffen dienen und so immer weiter. Sehr viel Papier ist zu beschreiben – lästig, aber doch zu schaffen, wenn man damit um den Grundsatz der Verantwortung des Menschen herumkommt –: der Leiter des Versuchsvorhabens ist anzugeben und sein Stellvertreter; deren Wechsel ist der Behörde anzuzeigen – wobei die Genehmigung aber weiter gilt – wenn sie nicht widerrufen wird; auch Versuche, die wiederum gar nicht der Genehmigung bedürfen, wenn nämlich (§ 8.7.1) deren Durchführung ausdrücklich durch Gesetz oder Rechtsverordnung oder durch unmittelbar anwendbaren Rechtsakt eines Organs der Europäischen Gemeinschaften vorgeschrieben oder in einer von der Bundesregierung oder einem Bundesminister mit Zustimmung des Bundesrates im Einklang mit § 7 Abs. 2 und 3 erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift vorgesehen oder auf Grund eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung oder eines unmittelbar anwendbaren Rechtsaktes eines Organs der Europäischen Gemeinschaften von einem Richter oder einer Behörde angeordnet oder im Einzelfall als Voraussetzung für den Erlaß eines Verwaltungsaktes gefordert ist, – auch sie sind anzuzeigen, aber nicht etwa bei der Staatsanwaltschaft, sondern der zuständigen Behörde, und enthalten in der Anzeige müssen (§ 8a.2) sein: von den Opfern Art und Zahl, von den Tätern Name und Anschrift, von der Tat Zweck, Art und Ort, Beginn und Dauer und Durchführung (nämlich die Methode des Wahnsinns); ist freilich eine ganze Serie von Taten beabsichtigt, so genügt die Anzeige nur der ersten und am Jahresende die der Gesamtzahl... Was hier die Perspektive zuwuchert, ist der bloße Verwaltungs-Dschungel, und ist man durch ihn hindurch, so bleibt zuletzt kaum noch eine andere Frage übrig als diese: Wann eigentlich werden Tierversuche nicht genehmigt? Wann ist es grundsätzlich, d. h. nach dem Grundsatz des § 1, verboten, einem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zuzufügen? Auch der (§ 8b) umständlich vorgeschriebene Tierschutzbeauftragte wird da wohl kaum nachhaltig etwas verhindern, weil schon das wiederum ihm vorgeschriebene abgeschlossene Hochschulstudium der Veterinärmedizin, Medizin oder Biologie – Fachrichtung Zoologie – verhindern dürfte, daß die Verantwortung des Menschen für das Mitgeschöpf allzu menschenverstandsgesund gegen die Vernünftigen Gründe vorgeht –: einen Verwandtenkrach wird es in dieser harmonischen Großfamilie schwerlich geben. Und sollten ja doch einmal die Geräte und anderen sachlichen Mittel fliegen, so braucht ihm, dem Tierschutzbeauftragten, von dem sogar (§ 8b.3.4) ganz realistisch ins Auge gefaßt wird, daß er selbst ein Versuchsvorhaben durchführt, nur das Gesetz selbst vorgehalten zu werden, das entsprechend vorgesorgt hat: danach hat er (§ 8b.3) lediglich auf die Einhaltung der Vorschriften zu achten, die Versuchstäter zu beraten, zu ihren Genehmigungsanträgen Stellung zu nehmen und auf die Vermeidung oder Beschränkung der Tat hinzuwirken – aber alles ganz gelinde und familiär, nämlich innerbetrieblich. Und dort, im Innern des Betriebs, sind (§ 8b.6) seine Stellung und seine Befugnisse denn auch zu regeln, und es ist dabei – immer von den Tätern, nicht etwa vom Gesetz – sicherzustellen, daß er seine Vorschläge und Bedenken unmittelbar der in der Einrichtung entscheidenden Stelle vortragen kann. Was das schließlich bedeutet, steht auch ganz direkt da: Der Tierschutzbeauftragte ist bei der Erfüllung seiner Aufgaben weisungsfrei –: er braucht keine Weisungen entgegenzunehmen, aber er darf auch selber keine geben. Er trägt und schlägt lediglich vor; die Stelle der Tätereinrichtung entscheidet. Dies alles ist, als Schutz-Gesetz, ein einziger Hohn auf sich selbst. Der Tierschutzbeauftragte soll leisten, was sein legislativer Auftraggeber, der doch der eigentliche Tierschutzbeauftragte ist, selber nicht leistet, und das Scheitern seines Auftrags ist in den Auftrag selbst einprogrammiert. Dies alles ist: eine vertuschte Pleite der Rechtsvernunft – eine hochtönende Wörterfassade, aufgerichtet zu dem einzigen Zweckeffekt, das zynische Gelächter dahinter zu decken, wo die wahren Gesetzgeber unter sich sind. Es ist ein Ermächtigungsgesetz, und in welchem Circulus vitiosus es sich dreht und windet mit seiner Ohnmacht, geht aus allen seinen raschelnden Bestimmungen hervor. Es delegiert zuletzt, ja verspielt mit gezinkten Karten – seine Autorität über die Tat selbst an die Täter –: wann eigentlich kann noch nicht-genehmigt werden, was niemand darf? Denn schließlich heißt das Einerseits-Andererseits auch einfach Theorie und Praxis –: »in der Praxis« ist die Genehmigung eine Routinesache, wie sie's immer war; sie wurde nie verweigert und wird es auch künftig nicht werden; und gibt es einmal einen Zweifelsfall, so macht sich die zuständige Behörde bei eben jenen sachkundig, die den Zweifelsfall vertreten und den Zweifel selbst grundsätzlich überflüssig finden, – Beispiele liegen genügend vor. Ein Ermächtigungsgesetz –: vielleicht darf man sagen, daß es mit seiner materiellen Absurdität in der ganzen deutschen Gesetzesgeschichte ohne Parallele ist? Oder sollte man es, zur Milderung des Verdikts, wenigstens metaphorisch mit jenem anderen vergleichen, das die Behebung der Not von Volk und Reich im Titel trug wie hier den Schutz – und jene Not erst im Extrem bewirkte? Ermächtigung –: bleibt zu besichtigen, wer die Ermächtigten sind, die privilegierten Täter, die von der Verantwortung dispensierten Ausnahme-Genehmigungs-Menschen, die Besitzer des Vernünftigen Grunds –: wer sind die Niemande, die dürfen, und vor allem: wie viele mögen es sein? Der § 9 beschreibt sie und ihre Lizenz ausführlich: Schmerzen, Leiden oder Schäden dürfen den Mitgeschöpfen nur von Personen zugefügt werden, die die dafür erforderlichen Fachkenntnisse haben; bei Wirbeltieren sind es solche mit abgeschlossenem Hochschulstudium der Veterinärmedizin oder der Medizin oder mit abgeschlossenem naturwissenschaftlichem Hochschulstudium –: also auch Mathematiker oder Astronomen? Der Gesetzgeber hat die Präzision, in der er ohnehin nicht exzelliert, hier fallen lassen dürfen, weil ja schwerlich anzunehmen ist, daß die Genannten, die auch gar nicht darum eingekommen waren, von der großzügigen Erlaubnis Gebrauch machen werden, obwohl die angestrebten Ergebnisse für ihr Fachgebiet kaum kleiner ausfallen könnten als für die Heilkunst, weil nämlich nicht unter Null. Wie viele also bleiben? Jedenfalls: potentiell immer noch Zigtausende – und das ist wahrhaft eine Zahl, die frieren macht. Selbst wenn man auch noch die Anthropologen und die sogenannten Humangenetiker streicht, denen aber schon weniger zu trauen ist als den weiteren Naturwissenschaftlern, bleibt das ganze Heer derer übrig, die den Dr. med. vor ihren Namen gebracht haben. Sie sind's, die bestimmen, wer die erforderlichen Fachkenntnisse hat – die der Gesetzgeber bei ihnen selber stillschweigend voraussetzt, ohne sich auch nur mit dem Versuch abzugeben, eine doch etwas höhere Autorität als das bloße Hochschulstudium zu konstruieren –: soll man das nun einfach einfältig nennen? Für konstruiert ersatzweise, der Gesetzgeber, erneut viele Schachtelsätze, um sich aus dem Fiasko zu retten; ihre denkerische Basis ist nun wirklich die Einfalt selbst. So etwa, wenn er die Abstrakta anruft, z. B. den Geist der Wissenschaft: Tierversuche sind auf das unerläßliche Maß zu beschränken, ja; aber bei der Durchführung ist der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu berücksichtigen, und wenn der so beschränkt und unzulänglich ist, wie er ist, bleibt auch die Berücksichtigung ohne zulänglichen Beschränkungseffekt. Unmittelbares Derivat dieses Erkenntnisstands ist der verfolgte Zweck, der wie eine idée fixe durch den Text geistert, und gerade er zeigt zur gespenstischen Genüge, was mit der Berücksichtigung wirklich gemeint ist, nämlich eine weiter erweiterte Lizenz. Versuche an sinnesphysiologisch höher entwickelten Tieren sind erlaubt, sobald Versuche an sinnesphysiologisch niedriger entwickelten Tieren für den verfolgten Zweck nicht ausreichen; Tiere, die aus der Natur entnommen worden sind, dürfen nur verwendet werden, soweit Versuche an anderen Tieren für den verfolgten Zweck nicht ausreichen; es dürfen nur soviel Tiere verwendet werden, wie für den verfolgten Zweck erforderlich ist; Schmerzen, Leiden oder Schäden dürfen nur in dem Maße zugefügt werden, als es für den verfolgten Zweck unerläßlich ist; schmerzlindernde Mittel sind zu verabreichen – es sei denn, daß dies mit dem Zweck des Tierversuchs nicht vereinbar ist; betäubt soll generell werden – wenn nicht der Zweck des Tierversuchs eine Betäubung ausschließt; endlich, lapidarer Gipfel: An einem nicht betäubten Wirbeltier darf nur einmal ein erheblich schmerzhafter Eingriff oder eine erheblich schmerzhafte Behandlung durchgeführt werden, es sei denn, daß der Zweck des Tierversuchs anders nicht erreicht werden kann –: was für einen Zweck mögen die abgeschlossenen Hochschüler mit den Fachkenntnissen bei der hier formulierten Schreckensvision wohl im Auge gehabt haben –, einen anderen als die Probe aufs Exempel ihres Sadismus? Was sind das überhaupt für Leute, von denen dergleichen durchgeführt wird, – wie sehen sie aus? Würden ihre Physiognomien auf einem Terroristensteckbrief aus dem Rahmen fallen? Wie hoch, wie niedrig entwickelt ist ihre eigene Sinnesphysiologie? Ihr dreimal verfluchter Zweck (über dessen Inhalt – gemach! – noch geredet wird) bestimmt allein, was nicht ausreicht, was erforderlich, unerläßlich, vereinbar ist, was ausschließt und nicht erreicht werden kann; dieser dreimal verfluchte Zweck bestimmt anstelle des gesetzlichen Erlasses das Maß aller Dinge und Taten, und da er selber allein von den Tätern bestimmt wird, bestimmen die Täter das Maß aller Unerläßlichkeit der Tat –: es ist nicht zu sagen. Oder doch, so: Der verfolgte Zweck im Gesetz kollidiert frontal mit dem vorgegebenen Zweck dieses Gesetzes –: das ganze Gesetz ist eine contradictio in adiecto.
Die Folgen dieser grundsätzlichen Schizophrenie lassen sich in sämtlichen Satz-, um nicht zu sagen Gedankengängen aufspüren, durch die es sich windet. So, wenn die Schutzvorschrift bei dem berüchtigten und unablässig durchgeführten LD-50-Test zur Ermittlung der tödlichen Dosis oder tödlichen Konzentration eines Stoffes (§ 9.2.6) vorschreibt, das Tier schmerzlos zu töten (nämlich mit der bereits schmerzvoll ermittelten tödlichen Dosis eines anderen Stoffs), sobald erkennbar ist, daß es infolge der Wirkung des Stoffes stirbt. Sonst stirbt es jedenfalls infolge der Versuche – und infolge des Gesetzes stirbt es überhaupt, obwohl dieses tatsächlich (§ 9.2.8) vorsieht, daß es am Ende eines Tierversuchs am Leben erhalten werden könne und dann seinem Gesundheitszustand entsprechend gepflegt und dabei von einem Tierarzt oder einer anderen befähigten Person beobachtet und erforderlichenfalls medizinisch versorgt werden müsse –: soll uns das vorspiegeln, es komme überhaupt eins mit dem Leben davon? Kann das Tier nach dem Urteil des Tierarztes nur unter Schmerzen oder Leiden weiterleben, so muß es unverzüglich schmerzlos getötet werden –: ist das Urteil etwa nicht immer, so oder so, ein Todesurteil? Kommt der unverzügliche Tod nicht gar noch generell als Freund angesichts des generell vorgesehenen, nur oft endlos verziehenden Todesschicksals am Ende? Ist das, dieser sophistische Gnadentod, der vernünftige Grund dafür, daß das Gesetz ihn selbst nicht mehr unter die Schäden rechnet, die niemand zufügen darf? Grenzt es nicht vielmehr mit atemberaubender Unbefangenheit die Versuchstiere generell aus seinem Schutzbefehl für die Tiere aus? Sollen wir ernstlich glauben, die gequälten Wesen würden nach Beobachtung, Versorgung und Pflege aus der Versuchsanstalt entlassen – in ein Rehabilitationszentrum vielleicht? Wo bleiben sie, die alljährlichen Millionen – anderswo als in den Produktionsmaschinerien der von der zivilisierten Gesellschaft so genannten »Tierkörperverwertungsanstalten«? Ist das Tier in einem mit erheblichen oder länger anhaltenden Schmerzen oder Leiden verbundenen Tierversuch verwendet worden, so darf es (§ 9.2.5) nicht für ein weiteres Versuchsvorhaben verwendet werden – – es sei denn, sein allgemeiner Gesundheitszustand und sein Wohlbefinden sind vollständig wieder hergestellt (bei erheblichen Schäden, d. h. Verstümmelungen) und der weitere Tierversuch ist nicht mit Leiden oder Schäden und mit nur unerheblichen Schmerzen verbunden – nach dem Urteil des Versuchers, für den die Mitgeschöpfe und ihre Empfindungen generell mit Unerheblichkeit verbunden sind. Dergleichen hat ein Pulk von Beamten ausgebrütet, deren Wohlbefinden dabei nie um seine Vollständigkeit gekommen ist –: sollte man das ganze Gesetz vielleicht doch einfach auf eine niedriger entwickelte Sinnesphysiologie zurückführen? Schlechterdings nichts von dem, was es vielleicht in gutem Vorsatz gewollt haben mag, hat sich vor dem Machtdruck der Täter halten können, nicht einmal die schon genügend ausgefranste Definition der Täter selbst. Denn schließlich dürfen (Sechster Abschnitt: § 10) Tierversuche weiterhin auch zur Aus-, Fort- oder Weiterbildung durchgeführt werden, soweit ihr Zweck nicht auf andere Weise, insbesondere durch filmische Darstellungen, erreicht werden kann, und die wacklige Barriere des § 9.1 sackt weiter in sich zusammen: es genügt schließlich, wenn die Versuche unter Aufsicht der dort genannten Personen durchgeführt werden. Den Leuten mit dem abgeschlossenen Hochschulstudium gesellen sich ergo alle jene hinzu, die ein solches erst dermaleinst abzuschließen gedenken, und sie dürften wohl von ihrer Aufsicht, die ihre Zwecke in der Regel durch filmische Darstellungen nicht erreicht sieht, weiter ermutigt-bis-gezwungen werden, kleinen Fröschen mit der Schere bei vollem Bewußtsein das Schädeldach abzutrennen, um ein paar neurophysiologische Zuckungseffekte zu betrachten. Das geht nun schon seit zweihundert Jahren so aus, fort und weiter, und die Bildung, die dabei herauskommt, ist längst von einer Art, die man auch lieber durch filmische Darstellungen ersetzt sähe. Das geht auch im Gesetz denn weiter, durch weiter gewundene Satz- und Gedankengänge: vom (Achter Abschnitt: § 12) Verbringungs-, Verkehrs- und Haltungsverbot, das aber der zollamtlichen Abfertigung nicht entgegen steht, über (Neunter Abschnitt: § 13) Sonstige Bestimmungen zum Schutz der Tiere, in denen etwa quälende Fangvorrichtungen verboten sind, dies aber wiederum nicht gilt für die Anwendung von Vorrichtungen, die auf Grund anderer Rechtsvorschriften zugelassen sind, bis hin zur (Zehnter Abschnitt) Durchführung des Gesetzes, die (§ 15) den nach Landesrecht zuständigen Behörden obliegt. Das Einerseits-Andererseits bleibt sich treu, bis es nur noch ein Andererseits ist: Die nach Landesrecht zuständigen Behörden berufen jeweils eine oder mehrere Kommissionen – zur Unterstützung – der zuständigen Behörden – bei der Entscheidung – über die Genehmigung – von Tierversuchen –, offenbar nicht zur Unterstützung bei der Verantwortung des Menschen; die Mehrheit der Kommissionsmitglieder muß die für die Beurteilung von Tierversuchen erforderlichen Fachkenntnisse der Veterinärmedizin, der Medizin oder einer naturwissenschaftlichen Fachrichtung haben –, offenbar nicht die der Ethik. Es geht weiter –: man lese das alles nach – und verschaffe sich anhand der hier durchleuchteten Beispiele zum richtigen Nachlesen die Fähigkeit, auch die ganze erbärmliche Schläue mitzulesen, die das Desaster dieses angeblich die ethische Vertretbarkeit vertretenden Gesetzes ist. Es hat seine Vertretung weit weniger ernst genommen, als es durch seine klingende Prämisse im § 1 glauben machen will, ja es hat diese Prämisse im Fortgang seines Pak- und Taktierens derart à la bagatelle behandelt, daß man zweifeln muß, ob ihm ihre Tragweite überhaupt noch sichtbar geworden ist – ob sie, die so mit aller Macht formulierte, gerade als Grundsatz überhaupt noch mehr bezeugt als eine grundsätzlich gewordene Bagatellbehandlung legislativer Fundamentalwerte. Rechtsphilosophen könnten hier abermals sehr ins Grübeln geraten –: Hat dieses Gesetz sich – sei es mit seiner Schläue, sei es mit seiner Unbefangenheit – vielleicht einfach übernommen? War es ein Dilettantenwerk? Ist es nicht in sich selber einfach mangelhaft und absurd? Wenn der Gesetzgeber seine Befugnis, Rechtsgüter zu setzen, selber vom Interesse der Rechtsgemeinschaft löst und von einer Summa Lex ableitet (Verantwortung des Menschen), erhalten Ausnahmebestimmungen dieser gegenüber selbst einen Tatcharakter mit bestimmbarem Schuldgehalt: – was könnte dieses Rechtswerk dazu gebracht haben, sich derart widersinnig als Verstoß gegen seine eigene Legitimation zu formulieren? Vielleicht ist man, um die inhaltliche und formale Versagensharmonie zu begreifen, am Ende genötigt, aus allen seinen Wörtlichkeiten weg ins Übertragene zu gehen und es insgesamt nur noch als geschlossene Metapher zu betrachten – für eine grundsätzliche Schuldigkeit, die ihren Zustand, in Form und Inhalt, nur noch selbst abbilden, seiner Herr werden aber nicht mehr kann...
Wie soll, was so weit gekommen ist, noch weitergehen? Der Gesetzgeber weiß es selber nicht. Er wird die Dinge wachsen lassen, denen er nicht gewachsen war, und abwarten. § 16d: Die Bundesregierung erstattet dem deutschen Bundestag alle drei Jahre einen Bericht über den Stand der Entwicklung des Tierschutzes. Betrachtet man, was schon vor 100 Jahren über den betreffenden Stand zu berichten war und berichtet wurde, so kann von Entwicklung keine große Rede sein. Auf die Evolution ist politisch kein Verlaß; die Arten sterben derweil aus, eine nach der andern, und irgendwann wird aufgrund dessen, was sie aussterben läßt, wohl auch die Art Mensch ausgestorben sein – zumindest jener Mutant, der durch eine sinnesphysiologisch unglücklich entwickelte Anlage verurteilt war, die Verantwortung des Geschöpfes für das Mitgeschöpf auf der eigenen Haut zu spüren. Spätestens dann wird sich jedenfalls auch der Tierschutz auf einen Stand entwickelt haben, der es den zuständigen Behörden ermöglicht, ihn ganz auf den verfolgten Zweck hin zu formulieren – nämlich den § 1, nämlich etwa so:
Grundsatz: Zweck dieses Gesetzes ist es, Tieren ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zuzufügen. Niemand darf aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden schützen.»Einer gebildeten Nation oder dem juristischen Stande in derselben die Fähigkeit abzusprechen, ein Gesetzbuch zu machen«, steht bei Hegel (in den »Grundlinien der Philosophie des Rechts«, § 211), »wäre einer der größten Schimpfe, der einer Nation oder jenem Stande angetan werden könnte.« Zumindest diesem einen Gesetz, einem elementaren jedoch, einem Grund- und Grundlagengesetz der gesitteten Gesellschaft, kann man die Fähigkeit, seinem erkannten Auftrag wie Selbstauftrag gerecht geworden zu sein, nicht zusprechen. Eine Handvoll von Bürgern, deren Sache die Verantwortung des Menschen nicht ist, hat einen Maulkorb um ihre Habgier und Beißwütigkeit gelegt bekommen; das war gut und wichtig. Ein Heer von Bürgern, deren Sache die Verantwortung des Menschen nicht ist, hat einen Freibrief erhalten für ihre Habgier und Beißwütigkeit; das ist ein Skandal. Und dieser Skandal treibt zuletzt auch das Urteil über das so verquirlte Amalgam von Einerseits-Andererseits in ein entschiedenes Entweder-Oder auseinander --: Entweder hat der Gesetzgeber seinen Grundsatz bei vollem Bewußtsein scheitern sehen, und es war ihm nur noch um den Schönen Schein zu tun; dann ist er ein Heuchler. Oder er hat wirklich das Grundsätzliche sagen wollen und nur aus heilloser Unfähigkeit nicht können; dann bliebe übrig, ihm in aller Ruhe Formulierungshilfe anzubieten, und notfalls mache ich mich selber anheischig, ihm das Paragraphenwerk strikt nach seinem Grundsatz und sogar unter Berücksichtigung des Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse mitsamt ihren Standesvertretungen in ein Textgewebe zu fassen, von dem keine weiße oder feldgraue Maus mehr einen Faden abbeißt. Er äußere sich. Aber er suche schleunigst nach Mitteln und Wegen, sich dieses unfähig gemachte Gesetz wieder vom Hals zu schaffen, das ihm vor einer humaneren Nachwelt sonst unfehlbar zur Schlinge werden muß.
Was gibt dieses Gesetz auf? Als Gesetz: sich selbst als möglichen Widerstand gegen das heraufkommende Nihil des Jahrhunderts; als Metapher: sich selbst als Möglichkeit zur prinzipiellen Hoffnung. Keine ist mehr heruntergekommen; keiner wäre nötiger aufzuhelfen. Was taugt das Tierschutzgesetz? Es taugt, heruntergekommen, heraufgekommen, Nichts.
III.
Aber nun müssen wir, es hilft nichts, zweiter Exkurs, noch in ein weiteres Detail, und es ist jenes, in dem des Teufels Groß-Mutter steckt. Jenes gewaltige Götzenbild nämlich, um das herum die gesamte Heil-Schul-Wissenschaft im ritualen Kotau auf den Knien liegt, der Ur- und Inbegriff ihrer ganzen Forschung und Lehre, der Mittelpunkt ihrer nosologischen Konfession, den sie so wenig hinterfragt wie der religiöse Gläubige die Gottesprämisse – von dem alle ihre verfolgten Zwecke unmittelbar ausgehen – von dem sie ihre ganze Autorität beziehen, ja ihre Weihe –: die Grundannahme nämlich, daß »Leben« – mitsamt seinen einander so komplex überlagernden und durchdringenden Dimensionen »Gesundheit« und »Krankheit« – identisch sei mit der dreidimensional zugänglichen Funktionsmechanik, in der es sich »äußert« und »verwirklicht«, daß es mit ihr ergo definierbar sei, in ihr ergo wandelbar, qualitativ beeinflußbar, ja zu »beherrschen«. Hier hat sich eine uralt übererbte, wie immer auch von der abendländischen Antike bereits infrage gestellte, Ontologie mit seltenem Beharrungsvermögen gehalten, und nur desto beharrlicher hält sie sich heute, je mehr die parallelen Real-Wissenschaften sie als zurückgeblieben erkennen. Das Schauspiel konnte – und wird für eine weitere Nachzeit – überwiegend komisch sein, wäre es nicht von so weltweit tragischer Auswirkung: – nur eine der Folgen ist, real und metaphorisch lehrhaft in einem, daß in der medizinischen Lehre die zu immer waghalsigeren Terminologien vorgetriebene Beschreibung der als invariant gesetzten Leibmechanik in eben dem Maße wächst, in dem die therapeutische Potenz abnimmt; nur eine der Folgen ist (mit unmittelharer Spiegelung im Ordinationsalltag), daß an die Stelle der Individualität, deren somatischer und psychischer Phänotypus doch sonst das reichste Variabilitätsmuster der Natur aufweist, die Vorstellung von einer normierten Sache getreten ist. Zwar haben in die Terminologie, die der Komplexität des Erforschten mit einem bis an die Zähne armierten wissenschaftlichen Expressionismus beizukommen sucht, allmählich auch Begriffe wie »vegetativ« oder, meist falsch angewendet, »psychosomatisch« Eingang gefunden; aber sie stehen nur für absolute Leerfelder des medizinischen Wissens und sind als Begriffe selber reinweg leere Hülsen, der Forschung aufgenötigt vom Fortschritt der Tiefenpsychologie, den sie vergebens aufzuhalten versucht hat, und geduldet höchstens im Umkreis jener unverschämten Placebo-Ideologie, die das Nichtwissen selber ist; die Forschung selbst gilt allem eher als ihnen und dem, was sie meinen. Leben, Leib, Gesundheit als Mechanik, als normierte Sache: von diesem Zentrum der medizinischen Ideologie, der medizinischen Glaubens- und Erlösungslehre, ist nur zu folgerichtig eine Serie von inhumanen Entwicklungen ausgegangen –: sie haben die unwürdige Behandlung der Patienten in Praxen und Krankenhäusern ebenso bewirkt wie ihr Gegenstück, den Größen- und Herrenrassenwahn der Behandler; sie haben nicht zuletzt auch den Wahn- und Aberwitz der Tierversuche am immer tödlicheren Leben erhalten. Denn wo man die individualen Unterschiede in der Leibkonstitution von Wesen der gleichen Art gering achtet, gibt es keine Hemmung für die nächste Annahme, daß auch zwischen den Leibkonstitutionen verschiedenartiger Wesen die Unterschiede gering und unbeachtlich seien – und daß man folglich von gewonnenen Reaktionsbefunden beliebig herüber- und hinüberschließen dürfe. Diese Annahme war früher, in noch weniger erleuchteten Zeiten, vielleicht nur fahrlässig und vom wissenschaftlichen Beweisprinzip her bedenklich; heute ist sie absurd und eine Parodie auf wissenschaftliches Denken schlechthin. Beiseite gelassen, ob die Medizin bei ihren Prämissen überhaupt als Wissenschaft anzuerkennen ist und nicht eher unter die säkularen Theologien zu rechnen, unter die bestimmten Religionsgemeinschaften, mit denen sie gemeinsam hat, daß ihre Anerkanntheit sich viel mehr auf geschichtlich erworbene Machtfülle gründet als auf ein, durch immer neue Selbstreflexion von Zweifeln befreites, Beweisfundament, – das beiseite, einstweilen, gehört die behauptete Wissenschaftlichkeit der Tierversuchsbegründung nirgendwo anders mehr hin als in den historischen Abfalleimer, so übervoll von Medikamenten dieser auch bereits sein mag. Sie hat nicht mehr Wahrheitsgewicht als die Posaunenreklame der hinter ihr stehenden deutschen Arzneimittel-Hersteller, die – sonst als Konkurrenten sehr getrennt marschierend, hier aber vereint schlagend – etwa bei Ratten die Übertragbarkeit der Erkenntnisse auf den Menschen in erforderlichem Maße gewährleistet sehen –: weil der Mensch, jedenfalls der ihrer Erkenntnis und Selbsterkenntnis zugängliche, gar so rattenähnlich ist, gell? All diese und ähnliche Behauptungen sind frech verblasener Wind: – »Wer vor der Vivisektion keine Skrupel hat«, sagte George Bernard Shaw, »der hat auch keine Skrupel, Lügen darüber zu verbreiten.« Verlogen ist die ganze so verantwortungsbewußte Miene, mit der die Industriewissenschaft auf ihre speziellen Tierzuchten pocht, die wiederum etwas gewährleisten, nämlich möglichst gleichartige Erbanlagen: – wahr ist lediglich, daß bei einigen gezielten Untersuchungen als biologische Modelle für den Menschen degenerierte Spezialstämme Verwendung finden, die einige reproduzierbare Bio-Eigenschaften besitzen (z. B. die sogenannten Adipositas-Ratten, Shay-Ratten usw.), und sie wiederum haben ihre eigene Spezialfragwürdigkeit, die wohl kaum erläutert werden muß. Daß selbst Geschwistertiere selbst nach längeren Zuchtstrecken noch die reichsten Individualitäten ausprägen, psychisch wie somatisch, ist außerhalb der Industrielabors unumstritten (und in ihnen vermutlich auch) und jedem schlichten Menschen bekannt, der mit noch leidlicher Verstandesgesundheit und Seelensensibilität seine Mitgeschöpfe angeschaut hat –: nur wer die Mitwirkung meta-physischer Konstituentien prinzipiell mißachtet, kann die Gleichartigkeit für möglich halten, und der Schwur auf die Erbanlagen erweist sich gerade im Bezirk von Gesundheit und Krankheit, in den die Mediziner andererseits immer mehr Sozialfaktoren einführen müssen, bloß einmal mehr als lauter Schall und Wahn. So wenig die Experimentatoren von der Lebensstruktur des Menschen wissen, so wenig wissen sie von der ähnlich-anderen des Tiers, egal ob Fisch oder Fleisch; nur daß beide anders sind, kann nun wirklich als hinreichend bewiesen gelten. Hinreichend bewiesen ist, daß Tiere – was immer der Schöpfer damit im Sinn gehabt haben mag – von Krankheiten weit mehr verschont sind als die arme Menschheit, die buchstäblich abgewirtschaftete, verkrebste, gefäßverstopfte, und wo sie schwer erkranken, ist meist das Menschenvieh daran schuld, das seine Unvernunft auf die kleinen so vernünftigen Wesen hartnäckig überträgt, um dann anschließend Chemiker ins Brot zu setzen; hinreichend bewiesen ist, daß die schweren Gesundheitaentartungen der Menschenwelt bei den Versuchstieren erst künstlich und mit aller Gewalt hervorgerufen werden müssen, ehe man daran gehen kann, die Gegenprovokation der Versuchschemie einzusetzen –: sollte nicht, nächstliegenderweise, auch für die körpereigene Abwehrkraft ein Unterschied sein zwischen solchen Krankheiten und solchen? Schopenhauers Bemerkung über den Instinkt, daß dieser nämlich »das Tier viel sicherer zu dem ihm möglichen Grade von irdischem Wohlsein geleite als den Menschen die Vernunft«, ist ja leider nur zu wahr; selbst vor schädlichen Einflüssen und Substanzen, die der Mensch mit imponierender Energie auf sich zieht und in sich hinein, läßt das Tier sein Instinkt oft lebenssicher zurückweichen. Sogar die schädlichen Substanzen selbst, die menschenschädlichen, kommen bei ihm nicht so an wie bei seinem ähnlich-anderen Mitgeschöpf –: Schafe verkraften Arsen, Kaninchen Tollkirsche und Fliegenpilz, Hunde Opium, und das Meerschweinchen von nebenan verträgt eine Dosis Strychnin, mit der im Leibe die ganze Bundesärztekammer tot von ihren Stühlen fallen würde. Das alles ist in hundert Jahren hundertfach beschrieben worden, und daß es in den harten Kern dieser hartkernigen Köpfe nicht vordringt, beweist am Ende nur, daß Ignoranz von beständigem Ignorieren kommt. Es ist nichts mit der Gleichartigkeit; es ist nichts mit der Übertragbarkeit; es hat mit der ganzen Ideologie des Tierversuchs schlechterdings nichts auf sich. Hinreichend bewiesen ist das, schließlich und zuletzt, sogar im empirischen Argument, das diesen eingeschworenen Empirikern doch am ehesten einleuchten müßte, wenn die gelegentlich fortschreitende Erleuchtung der Weltverhältnisse bei ihnen eine Chance hätte: Seit die Pharmachemieküchen vor sich hinpanschen, haben die Entwicklungen in Desastern geendet; die ganze Geschichte der Arzneimittelherstellung, von der Vergangenheit bis in die Zukunft, ist markiert von Katastrophen. Vom Thalidomid vor einem Vierteljahrhundert (»Contergan«) über das jahrzehntelang freigebig in die Analgetika gepackte Phenacetin oder die verschiedenen Pyrazol-Derivate, mit deren abenteuerlicher Synthetisierung schon vor über 100 Jahren begonnen wurde, wie Aminophenazon (»Pyramidon« mit dem daran gebundenen Sonderskandal um die Nitrosamine, die stärksten bekannten Krebserzeuger) oder Oxyphenbutazon (»Tanderil«: ausgezeichnete Verträglichkeit: über 1000 Tote plus Dunkelziffer; vor 3 Jahren verbot das BGA auf einen Schlag 65 gleich oder ähnlich gebaute Antirheumatika) bis hin zu ihrem neuesten Fiasko Metamizol (»Novalgin« – das aber selbst gar nicht neu war, sondern seit 60 Jahren tonnenweise gegen Schmerzen aller Art verfüttert worden ist) –: alles – und es sind bloß ein paar populäre Stichworte aus dem dickleibigen Giftkatalog, der heute das ärztliche Können ersetzt – alles mit Tierversuchen als sicher ausgewiesen, alles trotz Tierversuchen als, ganz gelinde gesagt, unsicher erkannt. Und wenn aus solchen Erkenntnissen inzwischen auch relativ schnelle Konsequenzen gezogen werden (die Rückrufe kann man jeden Monat in den Fachblättern lesen), die Grundkonsequenz wird es nicht: der Rückruf des ganzen Beweisverfahrens, der Rückruf der gesamten destruktiven Dogmatik erfolgt nicht. Daß der Eingriff mit massiver Substanz-Chemie in das Lebenssystem auf jeden Fall ein Balance-Risiko bedeutet und ungezählte subtil gesteuerte Funktionen entgleisen läßt, also Ursache selber wird für sekundäre Erkrankungen, von denen die akut primäre, den Eingriff motivierende, im Nu überholt wird, sollte als Prinzip seit wenigstens 150 Jahren eigentlich selbst-verständlich sein und selbst-beweisend; wo hartnäckig in jedem Einzelfall nach dem Einzelnachweis verlangt wird, entsteht immer greller der Eindruck einer Fahrlässigkeit, in der gerade die vorgezeigte wissenschaftliche Sorgfalt gegen den wissenschaftlichen Geist verstößt. Sie macht den Tierversuch einmal mehr zum bloßen Alibi für defektes Denken, und auch das beste, weil strengste Arzneimittelgesetz wird sie nicht vermindern, solange es ihn als Sicherheitsnachweis und damit sie selbst vorschreibt – statt ihr endlich mit wirklich eigenen Mitteln an die Wurzeln zu gehen.
Der Gesetzgeber steckt in einem Dilemma: er hat diese eigenen Mittel nicht. Getreu seinem Grundsatz, es sei bei der Entscheidung, ob Tierversuche unerläßlich sind, insbesondere der jeweilige Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zugrunde zu legen (§ 7.2), muß er sich zwangsläufig bei den Standes-Vertretern der wissenschaftlichen Erkenntnisse sachkundig machen, die wiederum oft den Vertretern der Pharmaindustrie zum Verwechseln ähnlich sehen, und so dreht sich alles im bekannten Kreis: der Täter programmiert die Tat, die Tat programmiert den Gesetzgeber, der Gesetzgeber programmiert den Täter; alle haben die Genugtuung, übereinander entschieden zu haben – und keiner gegen den andern. Fast möchte man in ein höllisches Hohngelächter ausbrechen bei dem Höllenvorgang – und sich vorstellen, wie ein Strafgesetz aussähe, das nach diesem Verfahren zustande käme: wo nämlich die Legislative etwa bei den Raubmördern anfragte, ob ihre Tätigkeit denn wirklich unerläßlich sei, um dann nach dem mörderischen Selbst- und Weltverständnis den Verbotsumfang einzurichten und entsprechende Lizenzen zu installieren –: ist die wissenschaftliche Erkenntnis der Chemiepanscher etwa mehr als ein bloß selbstbezogenes, auch noch heillos jeweiliges, Standesbewußtsein (das als Ideologie zuletzt wie dort einfach auf den Nenner Umverteilung des Eigentums zu bringen wäre)? Was herauskommen würde, als das Tierschutzgesetz zur Novellierung anstand, war denn auch prinzipiell nur zu deutlich abzusehen, und man konnte es noch vor dem Herauskommen selbst in den einschlägigen Zeitschriften lesen – (oft auf derselben Seite, auf der wieder ein Chemieskandal gemeldet wurde, wie z. B. [HP-Journal 3/86, 14] die mißbräuchliche Verabreichung von Medikamenten ans Schlachtvieh, die ständig zunimmt: Die Kontrolle dieses Marktes ist allerdings sehr problematisch, das man schon daran sieht, daß auch in der Bundesrepublik ein großer Prozentsatz aller Medikamente schwarz gehandelt wird, aber unschulds- und ärzteweiß produziert; das Ganze stand unter der Balkenzeile Aus der Welt der Medizin, deren Kontrolle als Markt wirklich sehr problematisch ist, was man wiederum an der unmittelbar nächsten Meldung sehen konnte): Medizin kann auf Tierversuche nicht verzichten, hieß es da lakonisch, und der vernünftige Grund war der Professor Wilhelm Schoeppe, bei dem sich der Bundestagsausschuß, nämlich wieder der für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, für den Tierschutz sachkundig gemacht hatte. Herr Schoeppe führte aus und gab, mit Ausrufungszeichen, die bekannte Antwort, ja er machte diesen Standpunkt noch einmal deutlich, und der Ausschuß lauschte um so beklommener, als Herr Schoeppe nicht nur als Schoeppe sprach, sondern auch als geschäftsführender Direktor des Zentrums für Innere Medizin der Universität Frankfurt sowie als Vertreter der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Gesellschaft, in der 66 medizinische Fachgesellschaften mit über 45000 Mitgliedern zusammengeschlossen sind, die wiederum alle die Vorschläge der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft und der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte unterstützen, nämlich für ein neues Tierschutzgesetz, das so aussehen sollte, wie es dann aussah. »Um nicht nur im Einzelfalle Abhilfe zu schaffen«, führte Prof. Schoeppe weiter aus (was das hieß, war dem Artikel nicht zu entnehmen: ob Abhilfe für Krankheit, ob Abhilfe für die Kenntnislücken unserer bestimmten Religionsgemeinschaft), »sondern allgemein bestes Wissen und Gewissen abzusichern, sind in Ausbildung und klinischer Forschung die Tierversuche unabdingbar.« Daß Mitgeschöpfe gequält werden und ihr Leben hergeben sollen, um das sonst offenbar schlechte Gewissen des Herrn Schoeppe und seiner allgemeinen Fünfundvierzigtausend abzusichern, ist eine atemberaubende Vorstellung; vollends unerträglich wird sie, wenn man sich selbst noch einmal deutlich macht, was es mit diesem allgemein besten Wissen und Gewissen auf sich hat - und mit der wahren Absicherung, die dahinter steht. Der Bundestagsausschuß hat jedenfalls den Wink verstanden und Herrn Schoeppe die Tierversuche gar nicht mehr abzudingen versucht, und entsprechend abgesichert ist die Definition der mit ihnen verfolgten Zwecke im sich so nennenden Tier-Schutz-Gesetz dann ausgefallen. Satz 1 (des § 7.2): Vorbeugen, Erkennen oder Behandeln von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder körperlichen Beschwerden oder Erkennen oder Beeinflussen physiologischer Zustände oder Funktionen bei Mensch oder Tier –: der Stil ist in diesem Fall nicht der Mensch (oder das Tier), sondern der allgemeine Geist der Pharmakologie, in deren Lehrbüchern man solche Sätze findet – und die man als Reine Wissenschaft ja folgsam bewundern würde, wenn sie nicht zugleich eine angewandte wäre. Satz 2: Erkennen von Umweltgefährdungen, die durch das vorbesagte Behandeln und Beeinflussen der Zustände und Funktionen im Großen entstanden sind, – also etwa ein LD-50-Test mit dem deutschen Ackerboden oder dem beeinflußten deutschen Strom, nachdem sich die Firma Sandoz samt Konsorten hineinergossen hat. Satz 3: Prüfung von Stoffen oder Produkten auf ihre Unbedenklichkeit für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder auf ihre Wirksamkeit gegen tierische Schädlinge –: ins Auge gefaßt ist die Überrieselung und Durchsetzung des gesamten Planeten mit produzierter Chemie – ein Vorgang, der jener mit Industrie selbst entspricht und mit ihr motividentisch ist. Hier klingt der volle moralische Brustton auf, der das idiomatische Kostüm dieser Industrie ist und schon bei Herrn Schoeppe eindrucksvoll erklang: Vorbeugen, Erkennen, Behandeln – Prüfen – Gesundheit, Unbedenklichkeit; bei ihren Investitionen, die sie uns in einem Ton vortragen, als gäben sie dauernd ihr letztes Hemd für die Menschheit her, ist ihnen auch keine Vokabel zu teuer. Dabei läuft das alles bloß als dreist gespielter Enthusiasmus ab, und die Wirklichkeit dieser ganzen verfolgten Zwecke sieht anders aus: Auf die Prüfung ist kein Verlaß; das Erkennen erweist sich, wie groß auch immer die Dosis, als therapeutisch unwirksam und nebenwirkend unerwünscht; die Gesundheit geht zum Teufel, und die Unbedenklichkeit landet unfehlbar im Rückruf –: es ist nicht zu sagen. schließlich Satz 4: Grundlagenforschung – so lapidar und ohne weiteres Oder: der Inbegriff des beliebig dehnbaren Weiten Felds – und die Zentrale des ganzen Schwindels; dazu ein veritabler Schwindel selbst, weil ja die Grundlage, die falsche Nosologie, selber gar nicht erforscht wird –: welch Schauspiel wird sich da nun weiter bieten! Hunderttausende von funkelnden Wissenschaftlern, rund um den Planeten wimmelnd, alle pausenlos mit dem Heil der Menschheit befaßt –: sollte das nicht doch die Opfer wert sein, die sie uns abverlangen – die Milliarden Mark, die Millionen Tierleben? Aber ach, ein Schauspiel nur –: die Opfer sind verschwendet; das Heil der Menschheit nimmt eher ab als zu; besieht man sich den ragenden Aufwand näher, so gebiert der angebliche Pisga nur alle Lustren einmal eine Maus. Der Krebs frißt weiter um sich; Aids ist heillos in Sicht; die Stoffwechselkrankheiten breiten sich in aller Stille wie epidemisch aus; – und bei der Grundlagenforschung hält nur die naseweise Nomenklatur der Diagnostiker leidlich Schritt –: unablässig stricken sie aus ihrem intrikaten Kauderwelsch neue Kausalitätsnetze, um ihre therapeutische Blöße damit zu bedecken; viel mehr fällt nicht an. Sie forschen vor sich hin, wie andere Leute Klavier spielen, jahrelang, jahrzehntelang, und was bei den Etüden herauskommt, ist bloß die Geläufigkeit im Forschen – und der fingerfixe Vortrag der immer gleichen Alten Melodie. Sie besorgen ihr Wohlbefinden und quälen die Mitgeschöpfe; sie reden vollmundig von der Verantwortung des Menschen – und tragen sie ersichtlich auf leicht gezuckten Achseln, weil sie zu ihr gezogen ja doch nicht werden; sie handeln als Sadisten genau so legal wie als Pfuscher wissenschaftlich. Sie pfuschen forsch und forscher immer fort –: jedes komplex gebaute Molekül, das sich synthetisieren läßt, gilt ihnen als arzneimittelverdächtig, auch wenn das große Heureka, dessen Wirkungsspektrum ein Prozentmaximum an erwünschten Effekten aufwiese, bei all der jahrzehntelangen Forsch- und Probiererei sich nicht hat einstellen wollen. Im Gegenteil: die heilsame, erwünschte Impulswirkung erweist sich bei immer mehr Substanzen, die sie uns beschert haben, als das Minimum und das Bündel der augenwischend so genannten Nebenwirkungen als der, womöglich irreversible, Haupteffekt; im Kleineren der Pharmakologie tritt allmählich zutage, was sich bei der Chemie im Großen längst zeigt: die winzig wohltätigen Kräfte werden riesig überwuchert von den destruktiven, die sie im unabsehbar langzeitigen Gefolge haben. Überall regnet's sie nieder und dunstet's sie auf; die Wälder sterben und die Wasser, und eine Katastrophennachricht fließt in die andere – warum? Zuletzt darum: weil die Grundlagenforschung ihre Destruktivität selbst da, wo sie's will, nicht mehr zusammenhalten kann – weil sie einen Anwendungs-Automatismus installiert hat, bei dessen Mühlrad-Rotation selbst ihre besten Kopfe nicht mehr im Vollbesitz ihrer Vernunft geblieben sind. Die Grundlagenforschung, die alle Geschöpf- und Mitgeschöpfquälerei legitimiert wuchtiger als je tickt mitten im chromblitzenden Inventar der Medizin die altmodische Stand- und Standesuhr, die der Menschheit die Stunden schlägt und weltweit täglich fast einer Million Tieren das letzte Stündchen, und man braucht wahrlich nicht das Böse Gehör, um darin das Ticken einer Zeitbombe wahrzunehmen –: wäre die Novellierung des Tierschutzgesetzes nicht eine historische, geradezu epochale Chance gewesen, das Pendel doch endlich entschieden anzuhalten?
Der Gesetzgeber hat vor seinem Dilemma kapituliert, wie es in der Unnatur der Sache lag, – aber er hat es doch immerhin gesehen. Denn das konnte auch ihm auf Dauer nicht verborgen bleiben: daß der Standpunkt, den Herr Schoeppe ihm noch einmal deutlich machte, den Abscheu der besten Nach- und Vordenker der Welt gegen sich hat, eingeschlossen die besten auch der Ärzteschaft. Bereits vor 5 Jahren unternahm er den Versuch, einmal in den Kern des ihn so behindernden Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse vorzudringen und sich das unfehlbare Abstraktum nicht mehr nur von einzelnen Ohrenbläsern, sondern konkret im Querschnitt von allen denen definieren zu lassen, deren Meinungen es bilden: Das Bundesgesundheitsamt (BGA) unternahm zum Problem der Tierversuche und ihrer Ideologie eine Fragebogenerhebung, die eine durch sich selber ebenso wie durch ihr Ergebnis außerordentlich imposante Studie erbrachte: Joachim Fiebelkorn und Norbert Lagoni, Tierschutz und Tierexperiment – Durchführung, Bewertung und Aussage von Tierversuchen und alternativen Verfahren; Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1981 (bga-Berichte 3/1981). Nun ist das BGA wahrlich unverdächtig, etwa einem radikalen Tierschutz das Wort zu reden, stellt es doch selbst den zweitgrößten Tierverbraucher in der aus Bundesmitteln finanzierten Forschung – mit einem (steigenden) Bedarf von über 80000 Tieren pro Jahr (der größte Konsument ist das Deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg, das über 150000 Tiere jährlich frißt; der Gesamtbedarf der bundesfinanzierten Bemühungen liegt – nach dem offiziellen Bericht des Bundesforschungsministers für den Haushaltsausschuß des Bundestags – bei 440000). Hinzu kommt, daß die Erhebung mit der größtmöglichen Systematik und Sorgfalt erfolgte, die von den Regeln statistisch gesicherter Ermittlung verlangt werden (durchaus anders als beim Emnidinstitut, das im Vorjahr über Auftrag der Pharmaindustrie eine Umfrage in der Bevölkerung vornahm und sich ein erwünschtes Ergebnis mit der Frage einfing, ob man, wenn gegen Tierversuche eingestellt, nach Kenntnis der Tatsache, daß dabei fast ausschließlich Ratten und Mäuse Verwendung fänden, sein Urteil ändern würde –: 28 Prozent ekelten sich und änderten). Im Hinblick auf das erstaunliche - und dann auch wieder eben nicht erstaunliche - Faktum, daß bis dahin noch keine einzige Studie vorlag, die eine Bewertung des Tierversuchs in der Arzneimittelforschung durch sachverständige Wissenschaftler aufgreift, wurden hier nun ausschließlich eben solche befragt, nämlich 1526 Wissenschaftler der Fachgebiete Pharmakologie und Toxikologie, Veterinärmedizin, Pharmazie, Biologie, Genetik, Biochemie und Physiologie in Hochschulen, Industrie sowie staatlichen und privaten Forschungseinrichtungen; zwei Drittel der Befragten führen selber Tierversuche durch. Die Rücklaufquote betrug 60 Prozent; offenbar sahen sich 40 Prozent dem ganzen Problem wissenschaftlich entrückt. Aber auch das übrige Ergebnis ist bezeichnend und eindrucksvoll, etwa angesichts der Rubrik Keine wissenschaftliche Kompetenz bzw. keine Kenntnis -: bei der Frage nach der Bedeutung des LD-50-Tests machten hier 16 Prozent ihr Kreuzchen – während 48 Prozent ihm große Bedeutung, 32 Prozent geringe Bedeutung und 4 Prozent keine Bedeutung zumaßen; bei der Erkundigung nach den Kriterien für die Auswahl der Versuchstiere nannten nur 34 Prozent ärztliche und wissenschaftliche Argumente; bei der Frage nach dem Prüfungszeitraum für Chronische Toxizitätsuntersuchungen – zentral wichtig angesichts der Applikationsgewohnheiten unserer Ärzte am Menschen – wurde die notwendige Versuchsdauer sehr unterschiedlich eingeschätzt; bei der Nachbeobachtungszeit für Akute Toxizitätsuntersuchungen – noch wichtiger hinsichtlich der chronifizierenden Potenz einer Mittelwirkung und doppelt absurd hinsichtlich der angenommenen Übertragbarkeit von maximal Wochen auf die eventuellen Jahrzehnte beim Menschen – war die Bewertung sehr uneinheitlich; bei der Frage nach dem Ersatz chronischer Toxizitätsversuche durch klinische Erkenntnisse (und ich kann nichts dafür, daß auch die Grammatik und Sprachlogik in diesen Kreisen so leiden muß) hielten 8 Prozent die völlige Substitution und 41 Prozent die teilweise für möglich, während nur 25 Prozent den Tierversuch hier als unerläßlich und unabdingbar à la Schoeppe ansahen – (die Quote der einbekannt Kompetenz- und Kenntnislosen betrug in dieser Frage bei den Universitätswissenschaftlern 22 Prozent). Und so weiter –: man lese das nach – man lese daraus den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse, den Millionen Tiere beim Erleiden von Schmerzen und Schäden berücksichtigen müssen: Die Ergebnisse sprechen für mehr Tierversuche und längere Prüfungszeiträume, woraus sich ein Mehrverbrauch von Versuchstieren und eine Ausweitung von Schmerzen, Leiden und Schäden ableiten läßt. Aber man lese – es steht fast verschämt mitten im vollendet sachlich referierenden Text und ist doch seine grellste Haupt-Sache – man lese auch nach, wie das beschaffen ist, was der Gesetzgeber berücksichtigt hat: den Befund nämlich, daß bei derartiger Streuung der Meinungen in Fachkreisen eine gemeinsame wissenschaftliche Basis fehlen muß... Diese fehlende Basis ist die ganze Basis der Tierversuche – ist die ganze vernünftige Grundlage der unablässig weiter verursachten Schmerzen, Leiden und Schäden –: wie wäre sie zu beurteilen?
Wenn unsereins nach dem Studium, zwar nicht der Veterinärmedizin, Medizin oder Biologie (§ 8b.2), aber ihrer Literaturen zu dem Ergebnis gelangt, daß es sich bei der ganzen Ideologie des Tierversuchs materiell um einen Schwindel handelt wie ethisch um ein Verbrechen, dann mag das so unverbindlich sein, wie jene ethisch abgehobenen Wissenschaftler es nennen, die auf den Besitz abgründiger Eingeweihtheit pochen und mit unnachahmlich blasiertem Mienenspiel auf den armen Laien hinabblicken, der ein bißchen in ihren heiligen Schriften geblättert hat –: das Verhältnis Laientum – Wissenschaft ist, wo sich beide um die nämlichen Fragen kümmern, wie eh eine geschiedene Sache, und beide Teile haben Gründe genug, Versöhnungsversuche abzuweisen. Aber hier liegt diese Sache nun einmal, ein einzigesmal, doch anders: die Fachkreise selbst haben zwischen den Parteien jene Gemeinsamkeit hergestellt, die ihnen selber bei ihren zerstreuten Meinungen fehlt, und gegen sie verwendet wird nur das Alles, was sie selber gesagt haben. Endlich sind einem die Fragen nach der Denkungsart der Leute mit den erforderlichen Fachkenntnissen einmal von ihnen selber im repräsentativen Chor beantwortet worden: nach dem Resultat ihrer, für sie nur mühseligen, für andere qualvollen Aus-, Fort- und Weiterbildung, nach ihrer Kompetenz, ihrem besten Wissen, nach der Grundlage ihrer Forschungsüberzeugung. Man wußte ja sonst nie so recht, woran man mit ihnen wirklich war; nur hier und da lernte man einen kennen, und der verheerende Eindruck, den sein Bildungsstand wie seine humane Empfindlichkeit machten, zog sich einem erschrocken in die Möglichkeit zurück, daß er ja doch Einzelfall sein und bessere Kollegen haben könnte. Diese Möglichkeit gibt es nun nicht mehr; der Eindruck ist bewiesen, der Beweis irrevozierbar erbracht; gegen das BGA-Urteil gibt es keine Berufung. Es lautet, noch einmal, und müßte, diesmal gerufen, eigentlich wie Donnerhall klingen, ja brausen: daß bei derartiger Streuung der Meinungen in Fachkreisen eine gemeinsame wissenschaftliche Basis fehlen muß! Und es fährt fort: Nicht zuletzt im Interesse eines zurückhaltenden Einsatzes von Versuchstieren und Tierexperimenten wäre es dringend erforderlich, eine rationale Grundlage für die Tierversuche zu schaffen. Es gibt diese rationale Grundlage auch heute, nach dem Durchgang der Tierschutzgesetzes-Novelle, noch immer nicht; es gibt nur, noch immer und wieder neu, die Tierversuche ohne rationale Grundlage. Das Urteil könnte weiter fortfahren: Solange diese Grundlage fehlt, kann eine Gruppe, die sich methodisch so unsicher ist, ohne aber ihre Tätigkeit von dieser Unsicherheit einschränken zu lassen, nicht als Wissenschaft berücksichtigt werden, sondern nur als Verband von Interessenvertretern, die bloße Meinungen haben und hinsichtlich ihrer Mittel wahllos vorgehen. Vor diesem Verband hat der Gesetzgeber kapituliert – vor welchen Interessen kapitulierte er? Ist er, wo er die Täter schützte statt ihre Opfer, noch mit seinem Dilemma zu entschuldigen? Worin bestand dieses Dilemma wirklich? Hätte er, um seinem löblichen Prinzip zu folgen und den jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu berücksichtigen, dessen Summe aus der Urteilsautorität seiner eigenen wissenschaftlich arbeitenden Behörde geschöpft, so hätte das Tierschutzgesetz – neben ein paar näheren Bestimmungen – grundsätzlich die Kürze eines StGB-Paragraphen haben können: »Zweck dieses Gesetzes ist... Niemand darf... Tierversuche, die der angeblichen Prüfung von... sowie der sogenannten Grundlagenforschung dienen, sind, da ihnen die wissenschaftliche Basis fehlt, ohne Ausnahme verboten...« Sicher, es hätte einen kleinen Aufstand gegeben, also viel lautes Geschrei anstelle des Getuschels, das es so nur in der Lobby gab; aber den hätte der Innenminister, der auch sonst nicht auf die Motive sieht, bestimmt gern niedergeschlagen – notfalls mit einer Dosis CS-Gas und sonstigem dazugehörigen Gerät. Sicher, es wären ferner ein paar tausend Leute mit abgeschlossenem Hochschulstudium nicht nur ohne rationale, sondern auf einmal auch ohne ökonomische Grundlage gewesen, und ihr Potential stünde anderswo zur bedenklichen Disposition; aber davor schrickt der Gesetzgeber doch auch sonst nicht zurück: – warum schrak er zurück vor der Möglichkeit, die ihm seine Behörde an die Hand gab? Die Forschung selbst hätte er, wenigstens was die Prüfung auf Mutagenität und Kanzerogenität betrifft (ihrerseits nur die Extremausläufer dessen, was man im Jargon zumindest als »Aliquidogenität« finden sollte, wenn schon sonst nichts darüber gefunden wird), auf die längst glänzend bewährten In-vitro-Versuche mit Prokaryonten, Zellkulturen und Insekten verpflichten können – und des weiteren auf die immer perfekter gelingende Computer-Simulation, – um sie nach einer Übergangsweile vielleicht, beraten zur Abwechslung diesmal von der weltweit Anderen Seite der Medizin-Wissenschaft, ganz in den Bezirk der infinitesimalen Dosen zu verweisen, in dem sie sich überhaupt nicht auskennt, weil dort auch die industriellen Umsätze vergleichsweise infinitesimal werden, – und schließlich gar in den der transsubstantiellen Wirkungsquanten (und gemeint sind nicht nur die der Hochpotenzen-Homöopathie), in denen »das Leben« selber mit seiner »Gesundheit« und »Krankheit« überhaupt erst beginnt. Das alles wäre utopisch? Sicher, es ist, weil geblieben ist, was war, einstweilen utopisch geblieben. Aber was es verhindert hat, war ja nicht die Weise Wirklichkeit, vor der die bloße Flause zu vergehen hat, sondern nur ein ganz banaler, vergleichsweise winziger Abschnitt von ihr, pantopisch mächtig zwar in der materiellen Welt, aber doch auch nur geschichtlich, zum Vorübergehen bestimmt und am Ende nur eine Flause der Geschichte selbst. Vor welchem wirklichen Dilemma hat der Gesetzgeber klein beigegeben – trotz des Donnerhallrufs im eigenen Hause? Zum Rhein, wer's nicht sieht; er lerne ihn als Metapher sehen. Dort fließt die Krankheit selber ins Gesunde Leben; ihre Gewalt allein hat auch das Tierschutzgesetz mit sich gerissen. Und allein vor ihrer banalen Gegenwart ist der Gesetzgeber vielleicht realistisch gewesen mit seinem Dilemma, das zuletzt gar kein Problem des Stands der wissenschaftlichen Erkenntnisse war, sondern eines der Erkenntnis; vor der wirklichen Geschichte, der des Lebens und der sich evolvierenden Menschlichkeit, vor der Summa Lex der Verantwortung des Menschen, wird es mitsamt seinen vernünftigen Gründen einmal nur scheinhaft sein – und er selber schuldig.
Die Frage des Tierschutzes ist und bleibt eine Moralfrage – und nicht nur da, wo sie utopisch wird, im scheinhaften wie im wirklichen Sinne; sie schließt alle und alles ein, was mit ihr zu tun hat und sich gegen sie vergeht, auch und gerade die Forschung. Erkenntnis ist ein Derivat der Ethik; zu ihr gehört, als Bedingung sine qua non, Liebe. Wäre je eine große Entdeckung mit dreckigen Mitteln gemacht worden und zu einem dreckigen Zweck? An der Überlegung beteiligen sollten sich vielleicht selbst jene professionellen Metaphysiker, die in der Tierdiskussion ja habituell beigezogen werden (und sich dann gegenseitig Genesis-Zitate reichen) – ohne viel mehr Gewinn, als wenn man sie zu Menschendiskussionen beizieht –: Ob von einem »Mittel«, das mit derartigen Opfer-Qualen verbunden ist, überhaupt ein Höherer Zweck erreicht werden kann...? Humanität ist die Gesundheit des Lebens, das Problem viel größer und realistischer, als es scheint. Daß unsere Krebsforscher nicht in der wissenschaftlichen Verfassung sind, den nötigen Tiefen Blick in die Natur zu tun, ist am Tage –: sind sie vielleicht nicht genügend in der menschlichen Verfassung dazu?
IV.
Sie wurden mit Fleckfieber infiziert und mit Hepatitis-Viren, mit Tetanus- und Gasbrand-Bazillen, mit aeroben Mischkulturen (dazu schnitt man ihnen eine 10 cm lange Wunde, zerquetschte den Muskel mit einer Klemme, erzeugte durch Adrenalin-Einspritzung eine anämische Randzone und versenkte das Infektionsmaterial, einen mit Bakterien getränkten Gazetupfer, worauf die Wunde wieder geschlossen wurde; nicht selten wurden später noch Holz- und Glassplitter dazugepackt); man schlug ihnen mit dem Hammer die Unterschenkelknochen in Stücke und reponierte sie dann mit Klammern; man erzeugte künstliche Phlegmonen an ihnen; man begaste sie mit Lost und Phosgen; man sterilisierte sie durch Röntgenstrahlen mit anschließender Kastration oder durch Einspritzung von Silbernitrat in den Uterus; man setzte sie in Unterdruckkammern, gab ihnen eine Woche lang nur Meerwasser gegen den Durst, unterkühlte sie in Wasser oder Freiluft –: alles mit dem Risiko oder der direkten Absicht des terminalen Versuchs, riskiert und beabsichtigt mit Versuchsmaterial, das von zuständigen Sachbearbeitern zur Verfügung gestellt wurde...
Es könnte, bei der so bearbeiteten Sache, von Tieren die Rede sein, jenem Versuchsmaterial nämlich, dem das alles heute, gleich oder ähnlich, in wissenschaftlichen Labors angetan wird, zu gleichen oder ähnlichen Zwecken. Es ist die Rede von Menschen, denen das angetan wurde, von Menschen, die es antaten, von Vergangenheit, von Geschichte – kurz, von jenem speziellen Ausschnitt deutscher Geschichte, für den die verdrängende, in der Ausgrenzung ihrer Schuldanteile imponierend einfallsreiche Nachkriegsgesellschaft das Code-Wort Mengele gesetzt hat. Der Name steht für eine Vielheit, von Namen wie von Erscheinungen; er stellt eine Reduktion dar, und es wäre aufschlußreich, dem Schicksal dieser Reduktion im öffentlichen Bewußtsein zu folgen – bis hin zu dem Endpunkt, an dem dieses nur noch die Sensationsneugier auf den Verbleib eines gruselnden Sadisten enthielt. Ganz fraglos vertritt dieser Sadist darin die von ihm vertretene Sache, und der Verbleib der Sache war gemeint, wo nach der Person gefragt wurde: – die Versessenheit auf den Tod des Monstrums entstand auf der Basis einer Unruhe, die keinerlei Trauerarbeit gegenüber der Monstrosität selbst erkennen ließ, diese aber eben dadurch als eigentlichen Inhalt der personifizierenden Verdrängung bewies. Sie galt, als Unruhe, dem unbewußt erfahrenen Fortbestehen des monstrosen Sadismus und dokumentierte es in der spekulierenden Ratlosigkeit, die der Präsentation der Todesbeweise folgte –: das Wunder war ersichtlich nicht geschehen, die Weltbedrohung mit Jenem nicht ins Grab gesunken; – hatte er sie doch nicht mit seinen Personengrenzen umschlossen, sie doch nicht in Person definiert? In einer korrekten, leidlich ermessenden Geschichtserinnerung könnten und müßten ja neben dem seinen durchaus auch andere Namen gegenwärtig sein, die von anderen Lagerärzten, Menschenversuchsmedizinern, Wissenschaftssadisten – Dr. Grawitz zum Beispiel, Dr. Rascher, Dr. Hoven, Prof. Hirt, Prof. Gebhardt; sie sind es nicht. Sie haben freilich ihre Epoche nicht oder nicht lange überlebt; aber als Repräsentanten einer vergangenen Geschichtssache hätten sie eben darum unvergessen bleiben können. Wurden sie vielleicht, zwangsläufig, vergessen, weil sie eben darum die Sache nicht repräsentieren konnten? Wurden sie vergessen, weil die Sache nicht vergangen war? Nun ist Sadismus, im allgemeinen wie im tiefenpsychologischen Verständnis des Wortes, ein unumstritten ontologisches Phänomen und geschichtsübergreifend; das hitlersche Reich, dessen Bedingungen ihn nur exemplarisch zum Durchbruch brachten und dann epidemisch bis in die untersten Chargen des Systems ausbreiteten, hat für den kollektiven Charakter Verformungen zur Folge gehabt, die mit dem Ende des Reichs nicht zu Ende sein konnten – so wenig wie ihre grellste Sonderform mit dem Ende des Mengele. Sein Name steht denn – und eben dies wurde und wird von den Verhaltensreaktionen der Nach-Mengele-Gesellschaft bewiesen – für ein weit größeres Phänomen, als er selbst es ist und die auf ihn reduzierte Geschichtssache, und er mag weiter dafür stehen; doppelt aber muß so der verhaltensbelegte Versuch, ihn und sie zur abgeschlossenen Geschichtssache zu erklären, zur Analyse dieses Gesamtphänomens aufrufen. Es gibt sie noch nicht; keine wäre angesichts der heutigen Geschichtssachen dringlicher zu leisten.
Das Phänomen, das größere: es umgreift auch die Taten, die das Thema dieser Schrift sind, und der Vergleich – KZ und Labor, der gequälte Mensch und das gequälte Tier, der Quäler einst und jetzt – sollte selbsterläuternd genug sein, um nicht ausformuliert werden zu müssen. Er wird von ungezählten psychisch intakten Betrachtern spontan gezogen, und wer den Gang der Welt- und Gewaltgeschichte mit auch nur leidlich nüchternen Sinnen überblickt, ist von keinem vernünftigen Grund aus dem Konstruktionsbüro des Gesetzgebers geistig darin behindert, von den Zentralen Versuchstieranstalten, in denen die Insassen ihrem Gesundheitszustand entsprechend gepflegt werden, die Verbindungslinie hinüber oszillieren zu sehen zu jenen anderen Anstalten, in denen Arbeit frei machte – (über die Betreuung, die hier wie dort im unbefangen geständigen Stil der Dokumente auftaucht, lese man im »Wörterbuch des Unmenschen« nach). Nie freilich erhebt sich größeres Geschrei, als wenn dies öffentlich geschieht, und es melden sich, den Unterschied aufzuzeigen, mit Vorliebe jene Leute zu Wort, die damals genau auch den Unterschied zwischen Menschen und Untermenschen wußten. Es entsteht eine Aufregung, die alle Symptome einer psychotischen Konfliktreaktion aufweist, von der einfachen geistigen Verwirrtheit bis zur Grenze von Charakterzusammenbrüchen, die sich als völliger Façonverlust ankündigen. Dies in einem – unerwartet? – umfangreichen, bereits kollektiven Ausmaß –: die ganze Nation spreizt die Finger, um den Vergleich abzuwehren, und es klingt einmal mehr wie ein in gigantische Banalität vergrößertes Kollege-kommt-gleich –: ja, sie war nie zuständig für ihre Greuel, diese Nation, und ist's auch für diese neuerlichen nicht –: wie soll man's ihr klarmachen? Wie soll man einem glücklich entkommenen Staatswesen, das Jahrzehnte gebraucht hat, um auch nur die einfachsten Gerechtigkeitsprozeduren gegen seine sadistische Geschichte in Gang zu bringen, noch klarmachen, daß es seiner Geschichte nicht entkommen ist, – vielleicht mit dem Vergleichsfaktum, daß seine Strafverfolgung auch der Tier- und Umweltsadisten dem auffällig gleichen Trägheitsgesetz unterliegt? Die Übereinstimmungen sind erdrückend zahlreich; fast alle charakteristischen Züge lassen sich parallelisieren. Nun hat der Tierversuch seine eigene Tradition, und der Zusammenhang besteht nicht nur darin, daß die Mengele-Konsorten einfach anwandten, was sie rein berufskonform gelernt hatten, und lediglich das Versuchsmaterial zu wechseln brauchten, nicht aber Technik und Motivation; auch den Menschenversuchen in den KZs gingen wie natürlicherweise Tierversuche voraus. Er besteht, der Zusammenhang, noch weniger allein darin, daß es hier wie dort Wissenschaftler waren – Ärzte, Pharmazeuten, Biologen –, die zum Menschenversuch übergingen; auch heute ist der Übergang fließend und diffus: der Menschenversuch folgt notwendig als Anwendung, und diese hat desto mehr seine Charakteristik als Erstversuch, je fragwürdiger die Schutzbehauptung der Übertragbarkeit der Ergebnisse ist; im Jargon steht für ihn denn auch, entsprechend motiviert, nur ein hochgestochenes Heuchelwort: Klinische Pharmakologie. Wer hier streng scheiden, Einzelheiten isolieren, getrennt bewerten, gar den Tierversuch für sich – von den täglich angestochenen kleinen Mäusen der Routinelabors bis zu den eingegipsten Affen der NASA – als Tat für normal halten möchte und für gedeckt von reinem moralischen und wissenschaftlichen Streben, wäre zu fragen, mit welcher Art Sicherheit er den Gedanken abweist, es mit Vorläufererscheinungen dessen zu tun zu haben, was uns allen von dieser Sorte Tätern zugedacht ist; – bei den Militärs liegt die Versuchsrichtung ja offen zutage. Der Zusammenhang: er besteht, jenseits der partikulären Erscheinungen, zuletzt und einzig in der Tat-Kraft selbst, die reduziert Mengele heißt –: nicht ihre historische Sach-Tradition, sondern die – im psychoanalytischen Sinne – prähistorische ihres Motivs ist das Über-Epochale, das heute fortlebt, und ihr muß, zuletzt und einzig, die überfällige Untersuchung gelten. Unterscheiden darf man allenfalls bei den Opfern, zwischen geschundenen Mit-Menschen und geschundenen Mit-Tieren, bei den Tätern aber nicht: – wer das tut, bringt das ganze Leben in Gefahr. Denn die Täter sind dasselbe und dieselben nach Struktur und Potential, und was sie miteinander identifiziert, das ontologische Großphänomen des Sadismus selbst, läßt in seiner umfassend mächtigen Sphäre zuletzt nicht einmal mehr zwischen Tätigkeit und bloßer Tatmöglichkeit differenzieren; auch sie sind, nur zeitlich wechselnd, identisch.
Homini lupus homo: der Mensch ist ein Abgrund, der Mensch ist ein Raubtier, »und ein geschminkter Tiger ist der Mensch«, Grabbe, Gothland –: an Grundeinsichten dieser Art hat es dem sich selbst reflektierenden Unwesen nie gefehlt; sie sind seine Ewige Wahrheit. Gleichwohl enthält sein Selbstverständnis untilgbar deren negative Qualifikation; folglich wird ihr Erscheinen, selber untilgbar, notwendig tabuiert; folglich erscheint sie in Metaphern. Diese bilden gleichsam wechselnde phänotypische Formulierungen des invarianten genotypischen Grundfakts; ihre Bilderreihen, nur an der Oberfläche bunt und formal ohne Wiederholung, sind tautologisch. Die kaleidoskopische Vielfalt der Geschichte ist durchaus scheinhaft –: für den prinzipiellen Blick stellen sich die Welterscheinungen allesamt als Metaphernserien mit wenigen jeweils zentralen Tertia comparationis dar. Ihre Vernetzung läßt sich entziffern, die analytische Lesefähigkeit für sie erwerben: – sie liegen praktisch auf der Straße, wo man etwa ein Volk, das die Schornsteine von Auschwitz zum Rauchen brachte, als eine Horde von Gasgebern vor sich hinrasen sieht. Differenzierungen sind Sache bloßer Phänomenologie; in ihr mögen leicht auch die feinen Unterscheidungen von Mittel und Zweck, von Grundsatz und Durchführung ihre Rechte bekommen. Aber wo man die noch so differenten Geschichtsphänomene als nur subaltern bewegte Partikel einer übergreifend mächtigen Dynamik erkennen lernt, haben jene ihr Recht verloren – und damit ihre Entstellungskraft, wie bei den Verschiebungen des Traums. Zu dessen latentem Inhalt vorzudringen, von den Metaphern zum Grund-Begriff, ist die Aufgabe – auch in der Analyse der Geschichte, die einem Albtraum nicht unähnlich sieht und ähnlich jedenfalls organisiert ist. daß es sich bei ihren Geschehnissen um tabudeckende Metaphorik handelt, erhellt sich eindrucksvoll, wo sich ihre immanente Rationalität der Begründung als Rationalisierung ihres Grundes zu erkennen gibt, und diese wiederum wird erkennbar an ihren immanenten Widersprüchen und Brüchen. Hier, bei der so rational begründeten Erscheinung Tierversuch: an dem Grundwiderspruch in und an sich, dessen Antinomie fast an jene der beiden Grundtriebarten erinnert und wahrlich auch mit ihnen zu tun hat. Da die Sorge um das Nächstenwohl zu diesen elementaren Trieben nicht gehört, schlägt jedes Wort Alarm, mit dem sie sich in der Selbstbegründung verdrängt –: wem es um Leben geht, der kann nicht derart mit dem Tod Hand in Hand, nicht derart dem Tod in die Hand arbeiten; wer seine tägliche Arbeit für menschenfreundlich hält, kann kein praktizierender Tierfeind sein –: es ist ihr nicht über den blutigen Weg zu trauen, der Lebens- und Menschenfreundlichkeit dieser Töter und Quäler, auch nicht über den ihres vernünftigen Grunds. Hinzu kommt dieser mit seinem eigenen Widersinn: dem nämlich, daß die Erfahrung bekanntlich immer wieder die unter exzessivem Tierverbrauch gewonnenen Daten als wertlos erweist, weil sie nicht mit den anschließend empirisch gewonnenen Humandaten übereinstimmen, und daß diese Erfahrung für die Ideologie des Verfahrens zugleich völlig wertlos bleibt. All das wird gekrönt von der Ideologie selbst, die (so die Reklame der Pharmaindustrie) das Tier als unersetzlichen Stellvertreter für den Menschen betrachtet und eben diesen Stellvertreter quält und tötet: – oder ist dies vielleicht ihr wirkliches Programm – und sie meint den Menschen nicht nur im Effekt, sondern a priori? Das Ganze zeigt, in seiner Logik wie in dem, was sie spiegelt, ein durch und durch perverses Verständnis der Mitgeschöpflichkeit: ein zwanghaft in sich selbst verfangenes und verfilztes Ineinander von Verrücktheit, Widersinn, Verkehrung –: ist es nicht eine Perversion selbst? Was die Mediziner in den Labors treiben und, nur die nächste Metapher, mit dem Ergebnis des Treibens in ihren Praxen fortsetzen –: ist es etwa nicht die Befriedigung jener Perversion, von der Freud bekannte, daß er nicht genug davon besitze, um Arzt sein zu wollen? Was sie ist, zu was sie fähig ist, bedarf in diesem so anschaulichen Jahrhundert für die Anschauung keiner Beschreibung mehr, – wohl aber, wie sie wird, was sie ist, und das heißt: wie die werden, was sie sind, die sie sind: die Untiere unter der Schminke der rationalisierten Metaphern. Denn wie der Sadismus immer den Menschen meint und immer dessen Ganzes als Leben, so ist er auch als Causa und Inhalt des Albtraums vom Menschen nicht abzulösen: er hat den Charakter einer Konstitution und die Konstitution eines Charakters, und als solcher, nicht als Erscheinung selbst, ist er zu analysieren. Dies kann hier nur im Grundriß geschehen – und, freilich angemessen, auch wiederum nur in Metaphern, nämlich denen der Psychoanalyse; es mögen aber die einzigen sein, die den seinen gewachsen sind. Der Typus Mengele, der unersetzliche Stellvertreter für Raubtier und Abgrund, – wie kommt er zustande?
Da der Sadismus als Partialtrieb zur allgemeinen menschlichen Ontogenese gehört und selber nicht an eine bestimmte Charakterkonstitution gebunden ist, gilt es vorab – auch um der Laienverständlichkeit des Folgenden behilflich zu sein – einen allgemeinen Blick in den archaischen Entwicklungsraum der Ich-Bildung zu tun. Er reicht über die ersten vier Jahre der geborenen Existenz und ist vom übrigen Lebensschicksal, das mit seinem Abschluß erst eigentlich beginnt, durch Amnesie abgetrennt – imgrunde eine externe Fortsetzung der intrauterinen Evolution. Was in diesem Zeit-Raum geschieht, ist von der Psychoanalyse subtil erforscht und beschrieben: es stellt sich, vereinfacht, als Entfaltung der Lebensenergie (»Libido« und ihrer Steuerungsfunktionen dar, die sich stufenweise (»orale, anale, phallische Phase«) immer mehr differenzieren und eine Vielzahl von dynamischen Strängen ausbilden. Zu ihnen gehört ein ganzes Arsenal polymorph-perverser Antriebe, die im Dienst von Aggression und Bemächtigung stehen, darunter auch der Sadismus; sein Tätigwerden ist bei jedem Kind mehr oder minder deutlich zu beobachten, bleibt aber gebändigt durch die noch beschränkte Dienstbarkeit des Muskelapparats, und seine Konfliktspannungen werden vorwiegend innerlich erlebt. All diese Triebstränge entwickeln sich auf das ödipale Zielfeld zu, ja dieses zieht sie, kann man sagen, wie ein Gravitationszentrum an: hier werden sie endgültig koordiniert; hier werden die antagonistischen Haupttriebe wieder-vereinigt und koexistentiell gebunden (»Ambivalenz«). Wirken auf deren Proporz die akzidentellen Erlebnisse mit der Außenwelt allgemein quantifizierend, so qualifizierend speziell in ihrer Eigenschaft als Widerstände (»Verbote«); aus deren historischer Summe formiert sich auf dem Höhepunkt der Entwicklungsarbeit mittels Internalisierung der Triebobjekte (»Identifizierung«) schließlich die Endinstanz des psychischen Apparats (»Über-Ich«): sie schließt gleichsam die Fontanellen der Ich-Organisation und entläßt diese mit, nach innen wie außen, gesicherten Grenzen »in die Welt«; das eigentliche Ich-Leben beginnt. – Soweit der normale artbestimmte Ablauf; in ihm hat der Sadismus eine fest eingebundene, nach Wirkungskreis wie -grad begrenzte Rollenfunktion. Um nun zu verstehen, wie er aus dieser Begrenzung ausbrechen und zur ich-beherrschenden Verhaltensform werden kann, ist kurz auch die Pathologie des archaischen Ichs zu betrachten. Sie kennt zwei große Gruppen defekter Konstitutionen –: Psychosen, entstehend meist in der frühesten Zeit durch Fehlbildungen in der Besetzungsorganisation der Libido (und so imgrunde Entsprechungen zu somatischen Dysmelien, weshalb auch die Möglichkeit vorgeburtlicher Verformung immer noch unentschieden diskutiert wird); ihre Konflikte liegen topisch zwischen dem gesamten, in sich arretierten und nur provisorisch ausgebildeten Instanzeninstrument und der für das Ich-Gefühl fremd und extern bleibenden gesamten Außenwelt. Und Neurosen, entstehend als aufwendige, libidobindende Reaktionsbildungen auf fixierte Konflikte in der Instanzenentwicklung selbst; diese liegen bleibend in der Vermittlungsfunktion des Ichs und stellen Kompromißversuche dar, Prothesen gleichsam, die ihm eine leidlich abgesicherte, wenn auch eingeschränkte Lebensbeweglichkeit zwischen den Es- und den Über-Ich-Kräften, Triebansprüchen und Triebverboten, ermöglichen. Geno- und Phänotypen dieser beiden seelischen Krankheitsarten sind von der Psychoanalyse ebenfalls weitreichend erkundet und mögen bekannt sein oder nicht; hier soll im Grundriß nur auf den einen Typus eingegangen werden, der als Voraussetzung für das Freiwerden des Potentials Mengele anzusehen ist: die Zwangsneurose. Sie ist die in unserem Kulturkreis am weitesten verbreitete Charakterprothese und in gewissem Sinne seit fast dreieinhalb Jahrhunderten seine direkte Produktion; er verdankt ihr ebenso viele gesellschaftliche Leistungen wie Katastrophen. Ihr defizitäres Reaktionsfeld liegt im ödipalen Randareal, kurz vor der Über-Ich-Bildung –: hier ist auf dem Entwicklungsweg ein Ich angelangt, dessen Besetzungsdynamik außerordentlich starke anale Motivinhalte birgt und bereits einen nicht geringen Libido-Anteil psychotisch auf sie abgespalten hat. Sie wird begleitet von entsprechend starken akzidentellen Verbotserfahrungen, die sich im ödipalen Vorfeld zu einer Gewalt von ruinoser Strenge akkumuliert haben und dem Ich die Aufgabe ihrer Internalisierung als unlösbar erscheinen lassen. Seine Entwicklung, bereits im Einzugsbereich der ödipalen Gravitation und auf die vom Zielprogramm der Art vorgegebene Endordnung zutreibend, bleibt nun wie abgebremst stehen – inmitten eines Energiestrudels aus unkoordinierten Triebmengen und -richtungen: sie erschöpft ihre Energie darin, deren Ansprüche ebenso abzuwehren wie die der extern wartenden Über-Ich-Formation, und die Ablösung von deren Besetzung durch Identifizierung kommt nicht zustande –: damit unterbleibt der Struktureinbau der Endinstanz, damit bleibt die von ihr zu gewährende Entlastung durch Ambivalenz unerreicht. Deren ersatzweiser Herstellung gilt fortan die gesamte Reaktionsleistung der Zwangsneurose; der Energiebedarf dafür ist gewaltig und die gesamte noch freie Libido bis zur Überanstrengung in sie eingebunden. schließlich erstarrt die so auf ihren Konflikt fixierte, sich in gleichbleibend doppelseitiger Verdrängungsarbeit selbst aufzehrende Ich-Funktion zum festen Ritual, dessen Automatismus aufwandsparend wirkt und das Spannungsgebiet entlastet - (er bildet im übrigen einen imponierenden Schutz vor dem drohenden psychotischen Zerfall, und die therapeutische Analyse, die den verderblichen Zirkel aufzuspalten sucht, um die Ich-Energie für ihren durch die Fixierung unterbrochenen Entwicklungsweg freizusetzen, muß das entsprechende Risiko immer bedenken) –: es entsteht, als typische Erscheinung, der Zwangscharakter. Seine Grundzüge sind, als Abwehrbilder analer Triebtendenzen: ein wie vorprogrammierter Lebensverlauf, in dem freie Situationsentscheidungen kaum stattfinden können; Ordnungssucht und Pedanterie; Gründlichkeit und Grübelzwang, bei zugleich monomanischer Enge der Phantasie; Sparsamkeit bis zum Geiz; Unentschlossenheit und Umständlichkeit; Sammeltrieb usw. Im äußeren Erscheinungsbild entsprechen ihnen: Körperstarre und maskenhaftes Gesicht; Verkrampfung der Motilität (mit analogen Folgekrankheiten, von Gelenk- bis zu Lungenleiden); Beherrschtheit aller Affektäußerungen; formelhafte, sequenzierende Sprache; Waschzwang; aggressives Sexualverhalten usw. Der Zwangscharakter antwortet auf jede Anforderung flexibler Ich-Leistungen, die aus dem Gesellschaftsleben an ihn gerichtet wird, mit verhaltener Angst und automatischer Abwehr; wo er geschichtlich bestimmend auftritt, entstehen »reaktionäre« Epochen mit fixierter Ideologie (kollektive Zwangsvorstellungen); – seine Produktionen im Alltagsleben sind allesamt wissenschaftlich gut durchschaut und mögen aus der Literatur vergegenwärtigt werden.
Es begründet sich selbst, daß der Zwangscharakter als Massenerscheinung die Basis aller autoritären Systeme bildet: seine Arbeitsleistung ist leicht zu instrumentalisieren und auf restriktive Programme einzuschwören; Zucht und Ordnung sind sein erstrebtes Lebensmilieu und schaffen ihm Befriedigungserfolge, die ihm eine in freiem Affektverbund flutende Gemeinschaft nicht versprechen kann; er geht und steht mit Vorliebe stramm und sieht andere, auf die er dann leicht zu vereidigen ist, mit Vorliebe stramm gehen und stehen; er marschiert gern, trägt gern Uniformen, die das Ich unkenntlich machen, und findet als Kenner seines Innern die Idee eines reinigenden Stahlbads jederzeit plausibel; das Neanderthalwort Verteidigungsbereitschaft kommt ihm wie das Selbstverständlichste von der Welt vor, weil er selbst mit seiner ganzen Lebensstrebung aus Abwehr besteht. Jedenfalls kann man sicher sein, daß er jedes Angebot, Funktionsbestandteil eines normierten Zwangssystems zu werden, blindlings zusagend beantwortet; er stellt mit unheilvoller Verläßlichkeit das Wählerpotential der Demagogen. Dies vollends, wenn deren Extreme in der Geschichte auftauchen: ideologische Groß-Wahnsysteme mit phantastischen Befriedigungsversprechen, repräsentiert womöglich durch einen charismatisch geschminkten Feldherrn, Führer, Präsidenten, Boss –: da ist er unfehlbar mit zusammengeschlagenen Hacken zur Stelle; da wächst er sogar, wie nirgendwann sonst, über sich selbst hinaus. Was mit ihm nun geschieht, ist nichts geringeres als ein völliger Umbau seiner Ich-Persönlichkeit, und zwar in einem Maße, das keine Lebensbemühung des gesperrten Charakters je zuvor bewirken konnte: - wenigstens im abstrakten Grundriß läßt er sich beschreiben. Dem immer noch mit aller Anstrengung in die Externität abgewehrten Über-Ich tritt in der realen Außenwelt auf einmal ein Widerbild an die Seite, das alle Züge der eigenen anal arretierten Ich-Struktur aufweist, mit allen bedrohlichen Antrieben, jedoch ersichtlich ohne jedes Äußerungshindernis durch eine eigene verbietende Über-Instanz: eine Art Golem, ebenbildlich halbfertig, doch voll lebensfähig, ja auf atemberaubende Weise lebensunterwerfend: er bewältigt gerade diejenigen angstweckenden Verbote der Gesellschaft, die dem Zwangscharakter seine nie nachlassende Kompromißbildungsarbeit auferlegen, mit einer Überlegenheit, als wären sie gar nicht vorhanden. Dieser Golem ist sozusagen unwiderstehlich; das gesamte Sensorium der gefesselten Libido, die ihresähnlichen nie suchen durfte und nun ihresgleichen findet, in der immer erstrebten, hier »vollendeten« Ganzheit der Instanzenharmonie, spricht in wörtlichem Sinne »schlagartig« auf ihn an; er wird mit ihrer gesamten Kraft besetzt. Nun ist die »erotische« Qualität der Massenbindung an den Führer ja oft konstatiert, weniger schon beschrieben, verstanden aber gar nicht worden: - tatsächlich gleicht sie genau dem Zustand der zwangsneurotischen »Verliebtheit«, deren Charakteristik sich als Regression in Richtung auf einen psychotischen Zerfall hin darstellt: Urteilsschwäche, Überschätzung des Objekts, rapide wachsende Selbstunterschätzung des Ichs, destruktive (Eifersuchts-) und selbstdestruktive (Suizid-)Tendenzen usw. Auch hier wird, Regression auslösend, die Grundwunde berührt, d. h. die unabgeschlossene ödipale Situation wiederbelebt, und treten im objekt noch direkte Lüge der infantilen Vatervorstellung hinzu, des Leitbilds für die Summenformel qualifizierender Urteile, die das Über-Ich formiert, so ist, was folgt, nur folgerichtig genug: eine blinde Bereitschaft, das Widerbild draußen als Ersatz des einstigen Großobjekts anzunehmen, als Stellvertretung des einstigen Stellvertreters der geschichtlichen Triebverbote, und in die unvollendete Entwicklungssituation einzutragen: aus ihm ein korrigiertes Über-Ich zu bilden und mithilfe der Ablösung der Besetzung durch Identifizierung seine Ich-Konstitution endlich abzuschließen. Da das bisherige, nie internalisierte Über-Ich extern geblieben war, ist die reale Externität seines jetzigen Doppelgängers nicht geeignet, einen mehr als schwächlichen Widerspruch zu produzieren; die Konformität zwischen der negativen Triebstruktur und der sie nun nicht mehr negativ zensierenden Zensurinstanz bietet sich als Garantie für das Gelingen des Umbaus an –: so wird die Regression als Triumph erlebt, und der Golem tritt die offene Stelle des Über-Ichs an – eine Stelle, die topisch freilich leicht verschoben bleibt: sie liegt nach wie vor im anal-ödipalen Grenzfeld, verfrüht also im zeit-räumlichen Sinne, und die nachgeholte Internalisierung ist ebenso scheinhaft wie die nun erlebte Ambivalenz; scheinhaft, wenn auch voll erlebt, ist die gesamte Verwandlungsprozedur. Dies mindert jedoch in keiner Weise die reale Wucht ihrer Wirkung. Wirklich ja, d. h. am äußeren Habitus ablesbar, »identifiziert« sich der Zwangscharakter mit dem Führer; aber was dies triebdynamisch heißt, ist um ebenso viel unheimlicher als der populäre Begriff wie das, was weiter daraus folgt. Das neurotische Zwangsritual, auf das die Ich-Funktion sich reduziert hatte, verliert seine doppelseitige Abwehrnotwendigkeit und wird funktionslos; die aus der Analität stammenden Triebe können erstmals unbehindert ausgelebt werden, wobei ihnen das entlastete Ritual zusätzlich als Instrument zuhilfe kommt und ihnen seinen Automatismus leiht; erstmals wird ein unerhörtes Maß an Befriedigung erfahren. Dies um so mehr, je tiefer im Abgrund der polymorph-perversen Antriebe die Herkunft der nun frei ausströmenden Libido liegt. Der Sadismus ist nur einer von ihnen – mit freilich fast grenzenlosem Potential; es reicht vom Quälen des Individuums bis in die aberwitzigsten kollektivierten Ziele: Umsiedlung ganzer Völkerschaften, Massensterilisierung (die der vernünftige Grund jener KZ-Experimente war), Massenausrottung. Die vollendete Amoralität wird Wirklichkeit, und der Ausdruck »gewissenlos«, mit dem die erschauernde Welt diese Taten bezeichnet, ist – so schlicht er sich ausnimmt – zugleich die umfassende Bezeichnung für ihre Genese: sie wurden möglich, weil die Täter ihr Über-Ich los-geworden waren, bewirkt durch eine primordiale Ersatzfunktion, die im Einzelnen die gesamte Summe der menschlichen Kulturerrungenschaft zu löschen wußte. Ermißt man die Gewalt dieser Amoralität, so gewinnt man einen Grund mehr, Freuds später Triebtheorie zu folgen, die den Sadismus als direkten Abkömmling des Todestriebs am Werk sieht und ihm innerhalb der Triebmischungen einen autonomen Charakter zuspricht; seine Ressource ist un-endlich. Gemischt tritt er in vielerlei Gestalten auf, die in größerem Zusammenhang darzustellen wären, so etwa in der Bindung an das anale Kotinteresse –: nicht nur aus Untätigkeit lassen Diktatoren ihre Völker verelenden, die das Objekt ihrer perversen Libido sind: erst die Überhäufung mit Schmutz, ja die Umwandlung in Dreck selbst, erst die Kot-Ähnlichkeit durch die völlige Zerstörung aller Würde, wie sie sich in den KZs oder in den Folterzellen der Gegenwart systematisch erzielt zeigt, entbindet die volle sadistische Lust. Zahlreiche Einzelzüge der fatalen Konstitution wären hier auf ihre Tatspiegelung hin untersuchbar: so das für den Zwangscharakter typische Getrenntsein von Vorstellung und Affekt, das – nur scheinbar widersprüchlich – erhalten bleibt; es ermöglicht die Realisierung der sadistischen Phantasien ohne Beteiligung der Emotion, das emotionslose Quälen. Hier zeigt sich im übrigen ein Mangel der Lustempfindung selbst, der sich als jeweils immer häufiger auftretendes Leeregefühl dokumentiert und die ganze, wie sehr auch in die Realität sich auslebende Konstitution als irreal ausweist und als halluzinatorisch: das aus dem Halt seines Rituals herausgefallene Ich wird zwar aufgrund seiner defizitären Abgrenzung von allen Strömen der ausgebrochenen Grundtriebe durchdrungen, hat an ihnen selbst aber keinen sensorisch unmittelbaren Anteil. Die ganze Dynamik mündet qualitativ nach kurzer Zeit in eine Psychose, die – wie zuvor von der Zwangsneurose – von dem Ersatzkonstrukt nur abgedeckt wird –: da die destruktiven Energien sich direkt ausagieren, sinkt das um seine Vermittlungsaufgabe gebrachte Ich, gleichsam haltlos geworden, immer tiefer in den archaischen Raum, in dem die Realität fremd und unkenntlich ist – (und daß die Führer-Paladine in der Endzeit des Reichs allesamt psychotisch reagierten, mit Wunderwaffen- und Endsieg-Wahn, kündigte nur ein von Anfang vorbestimmtes Schicksal an; der so überflüssig umrätselte Rudolf Hess war dafür nur eine Metapher, wie es auch seine leider vereinzelt dastehende Internierung gewesen ist). Einen Indikator für diesen Prozeß stellt nicht zuletzt auch die Sprache: sie vermag, als Ich-Äußerung, die Triebbefreiung nicht produktiv mitzumachen, sondern versucht, deren neuer Realität mit dem starren Ritual ihrer alten Zwangssprache beizukommen (dem der Verwaltung etwa, das in allen Dokumenten mit seinem Kontrast zwischen dem Gesagten und dem unsäglich Gemeinten einen ästhetischen Schrecken ohne Ende bildet – und zuletzt so noch konform abbildet, was der Schrecken der Sache selber ist); sie ist jedoch, die Sprache des pervertierten Zwangscharakters, unrettbar an das Schicksal des Ichs gebunden und regrediert mit ihm weiter auf der Bahn seiner und ihrer ontogenetischen Geschichte – bis an die öde Grenze zur Vorsprachlichkeit, deren Depot nur noch Reste und Trümmerstücke enthält und die Kommunikation auf Fragmente rationieren muß wie das andere Depot die anderen Lebensmittel, qualitativ nichts- und allessagend in einem: vom unvergeblichen Ja-wohl-Herr-Hauptmann des Woyzeck bis zum so schnell vergessenen Heil-mein-Führer der hitlerschen und nachhitlerschen Generalität.
Das Schauspiel ist insgesamt so bedrückend maßlos, wie die von ihm produzierten Geschichtsmetaphern es sind; ganz auszubeschreiben wird es wohl nie sein. Vollends der Beschreibbarkeit entzogen bleibt das Großsystem, das den Typus des perversen Zwangs-Menschen in überdimensionaler Ausprägung produziert: es ist eine in jedem Wortsinn archaische Konstitution, vielleicht die des Todestriebs selber, und seine Erkenntnis hätte jedenfalls die seelische Metaphorik der Psychoanalyse zu verlassen und vielleicht in der energetischen jenes Dualismus weiterzudenken, dem die Forschungen des späten Wilhelm Reich galten. Ob es einen phylogenetisch-geschichtlichen Anfang gehabt hat, wie Reichs Theorie es impliziert, steht freilich dahin; sicher bleibt nur, daß sein Ende nicht abzusehen ist. Dies unterscheidet von ihm selber tröstlich seine Produktionen, jene überdimensional Perversen, die den Massencharakter nach ihrem Bilde deformieren, heißen sie nun Torquemada oder Vlad Tepes, Hitler oder Etcetera –: ihre Existenz ist endlich, und was nach ihrem Ende mit dem von ihnen Deformierten geschieht, kann auch hier in wenigstens den Grundriß eingetragen werden. Das hitlersche Reich wurde in seiner kollektiven Verformungsarbeit relativ schnell unterbrochen; trotzdem reichte die generative Kraft der Perversion bereits ersichtlich in die mittleren und unteren Chargen seiner Hierarchie hinunter, wo der kleine Sadismus des Alltags sich entfaltete und, besonders in den letzten Kriegswochen, unschwer im Alltag auch zum großen Sadismus aufschoß, und der Umbau war tendenziell weit gediehen, als er durch die, leider sehr aufwendige, Beseitigung des Führers zum Einsturz kam. Das externe, in der primordialen Topik installierte Ersatz-Über-Ich verschwand ebenso schlagartig, wie es erschienen war; hinter ihm tauchte das alte Über-Ich wieder auf. Nun ist, was folgte, gewiß in vielfältigen Varianten abgelaufen; sein Allgemeines aber war so einheitlich, wie es sich – mit fast schon primitiver Unmittelbarkeit – in den geschichtlichen Faktenmetaphern spiegelt: die Rückkehr der sadistischen Psychose in ihre neurotische Absicherung, die Wiederherstellung des Zwangscharakters. Sie hieß politisch Restauration und reichte vom Wiederaufbau der Zusammenbruchstrümmer bis zur Wiederbewaffnung, die anzeigte, daß das kollektive Ich sein zwangsneurotisches Ritual der doppelten Abwehr wieder aufgenommen hatte. Das Ergebnis konnte so heißen, wie es in Atlanten heißt: Deutschland in den Grenzen von 1937 – eine Metapher, die mit weit mehr Berechtigung in ein Lehrbuch der Massenpsychologie gehörte. Das Ganze mutet wie eine Zwangshandlung selber an tatsächlich war es nur ihre Energie, was dem Ausland am deutschen Wirtschaften in der Weltgeschichte als Wunder vorkam. Verwunderlich ist sie noch heute, aber schwerlich zu bewundern. Durchschaut man ihren Wirkungszusammenhang, so kann man sie viel weniger imponierend finden, als jene selbst es taten, die sie zustande brachten –: dazu war in ihr zu wenig Ich-Leistung als gestaltendes Bewußtsein enthalten und zuviel wiederholungszwanghafter, nur objektverschobener Automatismus: zu wenig aktiv verarbeitende Taterinnerung, zuviel Verdrängung. In Wahrheit ja stellte sich der Zwangscharakter auf einem Status wieder her, der ein reiner Status quo ante war – Buchstäblich »als wäre Nichts gewesen«. Dies Nichts vereitelte auch die Durchführung der juristischen Gerechtigkeit: an der konstitutinnellen Unfähigkeit zur Identifizierung scheiterte, wie das alte Über-Ich einst, so auch dessen neue, durch die Tatschulden des Interregnums verstärkte Gestalt; einer der Abwehrkräfte entsprach die Metapher Formale Beweislast, die heute genauso die Judikatur gegen die Umweltsadisten behindert. Die so demonstrativ vorgezeigte Ambivalenz war unecht wie eh und je die intrapsychische: nur ein angestrengt künstliches Gleichgewicht aus Reaktionsbildungen. Ist »Verantwortlichkeit« eine großartige Qualität auch des kollektiven freien Ichs, so zeigte die Grimasse ihres Fehlens kläglich dessen wahres defektes Gesicht. Strafverfolger und Strafverfolgte einigte das leere Bewußtsein, daß ja eigentlich und »in der Tat« Nichts gewesen sei; es war dies die bloße Einigkeit ihrer Defekten, leergewordenen Charakterverfassung. Als deren Zwangsfolge muß man den Makel zuletzt verstehen lernen: als Notwehr des Charakters gegen und für sich selbst zugleich (und würde das gordisch verknotete Problem heute von der aber eben fraglich, ob gewandelten – Justiz auf sie alexandrinische Art gelöst, d. h. Verantwortlichkeit vorausgesetzt und zur Verantwortung gezogen, so gäbe es in den Chefetagen der Großkriminellen als erstes eine Serie von Charakterzusammenbrüchen und psychotischen Reaktionen, und zwar in einer so typischen Ausprägung, daß sie ohne weiteres lehrbuchgeeignet wären). Bezeichnend genug hat keiner der reichskriminellen Mediziner bei seiner Motivbefragung im Nürnberger Prozeß auf eine freie Ich-Entscheidung verweisen können: sie zeigten alle mit dem Finger auf die Lizenzen ihres Über-lchs, dessen Metaphern, bis zur Identität verschmelzend, ebenso Führerbefehl wie Wissenschafterbefehl hießen. Die Alliierten, die ihre Erfahrungen mit der Deformation des Zwangscharakters noch vor sich hatten, konnten den Zusammenhang nicht würdigen, forschten aufwendig nach dem »Gewissen«, das es daneben doch auch noch hätte geben müssen, fanden es nicht und hängten die Gewissenlosen auf; erst als die Strafverfolgung in deutsche Hände überging, war das Erfahrungsverständnis zur Hand, und die gemeinsamen Hände wurden in Unschuld gewaschen – Anfang jenes porentiefen Reinigungszwangs, dessen weitere Metaphern noch eine große Zukunft vor sich hatten. Das Schauspiel wiederholt sich, lehrbuchgeeignet, überall, wo seine Voraussetzung sich wiederholt hat –: auch die Folterer der heutigen Diktaturen kehren nach Beseitigung ihres Projektions-Über-Ich mühelos aus der sadistischen Psychose in ihren Zwangscharakter zurück, adoptieren die Kinder ihrer totgequälten Opfer und beweisen durch ein diszipliniertes Anpassungsritual das Nichts, das gewesen sei – und das von der beamteten Justiz, die nun wieder ihresähnlichen ist, wie sie zuvor ihresgleichen war, in der Regel dann auch zu Protokoll und Akten gegeben wird. Das Ganze erweist sich, bei aller Grauenhaftigkeit, nur als folgerichtig und gleichsam systematisch bedingt –: was beim Umweltsadismus öffentlich (»Report«-Sendung vom 11.3.86) »die vermutete Kumpanei zwischen Justiz und Wissenschaft« genannt wurde, ist nur wieder, als Tatbestand wie als Erklärung, eine Metapher – und als Erklärung greift sie, wie tapfer sie auch zugreift, zu kurz. Zu erkennen gilt es das System; erst danach kann sein Potential auch in den Folgen übersehbar werden.
Absehbar freilich wird es dadurch nicht; es reicht, das Potential Mengele, sehr weit. Unheimlicher als die Wiederkehr dieses Gleichen ist im Gesamtbild des Zwangscharakters die gleichgebliebene Bereitschaft, der ödipalen Gravitation nachzugeben und an der Leerstelle der nicht gelingenden Synthese externe Ersatzkonstrukte einzubauen, die erneut eine tolerante Über-Ich-Funktion übernehmen und das Ich in seiner Verdrängungsarbeit entlasten könnten. Fast ließe sich da von »Anfälligkeit« reden, von einer speziellen, gar physiologischen »Abwehrschwäche« – (und da, wo alle diese Vorgänge, in einer nur anderen Metaphernebene, chemische Entsprechungen haben, wäre sogar die Vermutung zu riskieren, daß bestimmte Metaboliten-Funktionen des Charakterumbaus gespeichert und erhalten geblieben sind – die des Phenylaethylamins etwa, das bei zwangsneurotischen Besetzungen im Limbischen System ausgeschüttet wird und als Pharmakon, heute freilich wie andere Psychodysleptika, aufgrund seiner verheerenden Wirkung längst den Betäubungsmitteln gleichgestellt, eine Modellpsychose hervorruft, an der u. a. als Signal einer beginnenden Regression der Verlust des Zeitgefühls auffällt –: dies ist ein sehr weites Feld, und was die Psychoanalyse »Libido« nennt, bleibt nach wie vor das missing link der Biochemie, die in ihrem mechanistischen Uhrwerk immer noch die Treibende Kraft braucht, wenn auch verwunderlich wenig sucht, und in ihre Weltbilder dann großartig so genannte »Reglermechanismen« einträgt; ein chemisches Äquivalent selbst hat sie, die Libido, wohl nicht, höchstens ein radiochemisches, und die Forschung bedarf hier einer Interdisziplinarität, von der noch keinerlei Vorschein in Sicht ist). Anzunehmen ist jedenfalls, daß auch das Psycho-Soma ein »Gedächtnis« hat, das funktionelle Erfahrungsraster speichert und reaktivierbar hält, und deren gefährlichstes ist hier jenes, das auch die Wiederkehr des beschriebenen Grundvorgangs jederzeit ermöglicht. Eine Psychoanalyse der deutschen Nachkriegsgeschichte ist außerstande, die Frage noch einem Zweifel offenzulassen, welches nächste Großsystem die Leerstelle im deutschen Zwangscharakter besetzte und diesen erneut deformierte –: es war das System Die Wirtschaft. Sie ist mit der ganzen Gewalt der neurotischen, anal überlasteten Libido zum Objekt genommen und in die defekte Topik verinnerlicht worden; sie hat das eigentliche Erbe Hitlers angetreten, wie sie zuvor schon den nächsten Verwandtschaftsanspruch darauf begründet hatte; die heutige Identität dessen, was Industrie heißt, stammt nicht aus den Gründer-, sondern aus den Führer-Jahren. Ihre gewissenlose, alles lizensierende, grundsadistische Konstitution dokumentiert sich selbst: – der differenzierende Begriff Wirtschaftskriminalität deckt nur zu, daß Wirtschaft, nach Theorie und Praxis, längst selber eine Form der Kriminalität ist. Das Ziel ihrer gesamten Dynamik, die Gewinnmaximierung, meint die Aneignung des Ganzen: ihre Struktur ist totalitär, das ihr widernatur-gemäße Verwirklichungsmittel die Zwangsarbeit, deren optimale Organisationsform das KZ. Hier braucht als Beweis nur noch ein Sic! zu stehen, ein lakonisches Ecco –: ein jeder sehe sich um. Sie ist, die Wirtschaft, das Ersatz-Über-Ich des nachhitlerschen Reichs geworden, unter dem das andere, abendländische abermals verschwand, mit dem sich der deutsche Zwangscharakter nie hatte identifizieren, das er nie hatte internalisieren können –: als kulturelle Summenformel qualifizierender Urteile hat sie die gesamte Werteordnung der gewachsenen Geschichte sich unterworfen und mit inzwischen fast vollendeter Radikalität gelöscht. Wer das Spannungsfeld zwischen beider Metaphern, in dessen schon überschrittener Mitte die Gegenwart liegt, mit allen seinen Erscheinungen durchmustert, kann nicht im Zweifel sein, daß es sich um Entweder-Oder-Positionen handelt –: ecco. Und dies läßt sich mit der nüchternsten Erfahrungsgewißheit sagen: Gelingt der Umbau des kollektiven Zwangscharakters ein weiteresmal, so wird der Weg für einen destruktiven Triebfluß frei, der selbst die Führer-Erfahrung in den Schatten schwemmen würde. Erstes Treibgut der bereits begonnenen Zerstörungs- und Selbstzerstörungsströmung – und bildreine Metapher des Sadismus der phallischen Phase, hinter dem der noch größere der analen wartet – ist die Raketenarmierung und ihr nur verschobenes, pseudo-ziviles Nebenbild Friedliche Atomnutzung: an ihnen, die in jedem Sinne Produktionen der Wirtschaft sind, wird deren totalitärer Anspruch symptomatisch sichtbar –: beide sind zuletzt nur unter den Bedingungen des Polizeistaats zu verwirklichen, und die Konzepte primitiver Politiker zeigen sich zwangscharakteristisch den Sachzwängen bereits entsprechend unterworfen. Daß die deutsche Versessenheit, solche Sachzwänge mehrheitlich zu verinnerlichen (und, in nur anderer Metaphorik, externe Sachen zu den eigenen zu machen), keine globalen Entsprechungen hat, weist fraglos auf einen mehrheitlich spezifischen Volkscharakter als Vorbedingung; er wurde geschichtspsychologisch definiert. Tatsächlich haben, wo der lebendige, frei verantwortliche (nach Reichs Nomenklatur »genitale«) Charakter noch vorherrscht bzw. noch weniger deformiert ist, deformative Systeme weit schlechtere Chancen: sie entstehen auch dort durch Machtakkumulation, bewahren aber die Eigenschaft der gewaltsamen Unterdrückung, die Deutschland bei seinen Systemen nie als Entschuldigung in Anspruch nehmen konnte. Auch die ökonomische Prosperität war und ist eine »typisch« deutsche Errungenschaft, und man geht schwerlich zu weit, wenn man die so unterschiedliche Fähigkeit anderer Völker, zu den gleichen Erfolgen und Folgen vorzudringen, in der unterschiedlichen völkischen Charakterstruktur begründet sieht. Sie wäre zu untersuchen – lehrreich auch noch da, wo sie gleich oder ähnlich beschaffen ist: im Beispiel Japans etwa – oder dem der anderen Achsen-Macht Italien, das unter Duce- wie deutschem Einfluß seinen Charakter ersichtlich psychotisch veränderte und entsprechend wirtschaftsfähiger wurde (mit der Einschränkung, daß beides mit doch weniger analer Gründlichkeit vor sich ging und heute hoffnungsvolle Auflösungserscheinungen zeigt). Man erklärt viele Geschichtsmetaphern der nachhitlerschen Zeit, wenn man sie im Kontext der hitlerschen zu lesen unternimmt, ja eigentlich alle, und der brüllende Protest, der überall aufschallt, wo das Verfahren fündig wird, liefert nur einen weiteren Beleg für die Richtigkeit des Verfahrens. Es ist anzuwenden, zuletzt, auf auch noch eine weitere Metapher. Daß der Wirtschaft als Autoritätsbild zahlreiche andere Systeme ähneln, die allesamt verdächtig sein müssen, auch ähnliche Verformungskräfte zu enthalten und zu entfalten, dürfte sich bereits als Konnotation gemeldet haben –: an ihre Seite gehören zweifellos, als Großkonstitutionen des Zwangscharakters, alle nur denkbaren administrativen Apparate (zuständige Sachbearbeiter), Parteiprogramme (Fraktionszwang), Religionsgemeinschaften, alle Ideologien überhaupt, auch trendisierte Kunstrichtungen, leider, und ihrer aller Subdivisionen, von den Fan-Clubs in Großstadt und Land bis zu den altmodisch am Wege liegenden Vereinsmeiereien, – kurz alles, was mit seinen Befriedigungsofferten in die defekte Lebensrezeption des Zwangscharakters eindringen kann und ihn sich subaltern macht – (befriedigend dann allerdings weniger für ihn selbst als für den Eindringling –: die Erfüllung bleibt halluzinatorisch, nur in der Vorstellung, nicht in den Affekten erlebt; allein die Arbeitsentlastung des bedrängten Ichs wird als Lustgewinn empfunden, weshalb die jeweiligen Systemprogramme qualitativ auch jede Beliebigkeit vertragen). Sie alle stellen Alternativen zueinander dar und sorgen für Gleichgewicht – für eines freilich, das scheinhaft bleibt und keine wirkliche Sicherung gegen ihr Grundrisiko bildet –: gefährlich wird dieses, wenn es einer von ihnen gelingt, sich die andern zu unterwerfen (Geschichtsmetapher Gleichschaltung), wie es Hitler gelang, wie es heute der Wirtschaft gelungen ist; dann addieren sich die irrationalen Vektoren nicht nur, sondern sie potenzieren sich, und gewähren sie aus ihrer Machtfülle Lizenzen, die der Zwangsarbeit des Zwangscharakters nach beiden Seiten Befreiung bringen, so ist auch der obskure Weg in seine primordiale Topik frei – wie der endlos finstere aus ihr heraus. Das Potential Mengele reicht weit; es ist überall; zu seinen Bedingungssystemen gehört, es steht nicht zu ändern, am Ende auch die Wissenschaft. Nun wird, wer sich unter ihr das Reine Streben des Geistes vorstellt, ohnehin in Verlegenheit sein, zahlreiche, heute immer zahlreichere Leistungen mit seiner Geist-Vorstellung überein zu bringen; es ist auch keine Frage, daß ihre so ehrwürdige Grundstrebung an der infantilen Forschungsneugier teilhat (wie folglich auch, fallweise leicht zu demonstrieren, an deren Scheitern durch Informationsentstellung), daß sie ferner, wo sie unter den kreativen Impulsen Dominanz gewinnt, von einer früh-veränderten Ich-Konstitution bedingt ist und also durchaus vor-rationale Motive enthält: – Analyse heißt Auflösung eines Existierenden, und sei's übertragen das Unwissen; sie greift an und beteiligt an der Aggression zahlreiche Partialtriebe; auch die vorliegende ist sich dieser Motivmischung bewußt. Nimmt man zusätzlich aber in den Blick, wie auffällig der Zwangscharakter den Durchschnittstypus des Wissenschaftlers stellt, und zwar in eben dem Maße statistisch zunehmend, in dem dieser in übergeordnete Systeme eingebunden ist, so wird auch erkennbar, daß hinter seinen pragmatischen Tugenden – Gründlichkeit, Ausdauer, monothematisches Denken – ein ganz anderes Potential lauert. Erkennbar wird: was es bedeutet, daß die Reine Wissenschaft immer mehr hinter der angewandten zurücktritt; erkennbar wird: warum die wissenschaftliche Bestrebung längst zu einem Partialtrieb des Systems Wirtschaft deformiert ist, das auch ihre einstige Verantwortlichkeit bereits in seinem Nichts aufgelöst hat. Sie hat ihren Charakter in aller Stille umgebaut, die einstens reine Wissenschaft, und sein Sadismus fließt, nur quantitativ unterschiedlich, aus ihren sämtlichen Metaphern – und keineswegs nur in den Rhein. Das ganze Großphänomen, einschließlich aller seiner Satelliten, einschließlich der politischen auch, der administrativen wie legislativen, bei denen die Unterwerfung so bestechend erfolgreich war, mutet selber wie ein geschlossenes Charaktersystem mit Zwangszügen an –: das macht den gigantischen Automatismus aus, in dem sich längst die ganze Gesellschaft bewegt. Er bildet ihre zunehmende Wesensverpanzerung aus, die von den ewigen Kettenfahrzeugen auf den Straßen nur metaphorisiert wird; unter ihm gehen die individualen Ich-Leistungen zunehmend zugrunde oder in die Psychose. Nicht zuletzt seine Sprache verrät ihn –: auch die Wissenschaftssprache ist, das geschwisterliche Schicksal zu dokumentieren, längst der traditionell stupiden Verwaltungssprache auf ihrer langen Bank an die Seite gerückt, und selbst die Geisteswissenschaften rücken nach, um den Großen Zusammenhang nicht als Ausnahme zu stören –: sie regredieren gemeinsam, ecco, allesamt – zurück in ein Stummel- und Stammelidiom, das die sinnverlassenen Formen mit Versatzstücken füllt und sein Selbstbewußtsein nur zu folgerichtig dem imposanten Großenwahn der Kleinkindäußerungen abschaut. Gerade die Medizin, um die es hier speziell geht, ob nun Human-, ob Tier-, ob Landschafts-, der Mittelpunkt des Zusammenhangs und immer ja noch der erd- und menschennächste Punkt im Wissenschafts-Universum: gerade sie zeigt die Gesamtdeformation, die an ihr geschichtlich schon lange arbeitet, in unerfindbar klarem Zungenschlag an; – Sprachwissenschaftler könnten mit ihm, sofern sie noch nicht selber infiziert sind, unterstützt von Tiefenpsychologen das Ätiologiebild in jeder Einzelheit belegen. Sie liefert, wie ihr Sadismus bei den Tierversuchen, für die Beweiserhebung auch mit ihren Redenssorten das direkteste Material: die kruden Lust-Embleme einer systematisch emotionslos gewordenen Ich-Ohnmacht, die von perversen Antrieben überflutet worden ist. Wo ihre plumpen Finger nichts mehr zu tasten bekommen, sind ihr keine pathologischen Resistenzen palpabel, und wo gar nichts ist, bescheinigt sie sich die Exploration eines subklinischen Befunds, um aus dem Nichts dann auch noch einen Vorwand abzuleiten, nicht nur den gesunden Verstand ihres Opfers, sondern das gesunde Opfer selbst zu malträtieren. Sie macht, gerade wo sie ihre vernünftigen Gründe formuliert, sich selbst als Form einer gestörten Vernunft erkennbar: als Ausdruck einer Regression in die Vor-Rationalität. Auf deren grund wartet, schon in Sicht, dumpf brütend die vollautomatische Golem-Sprache der Wirtschaft selbst, deren Äußerungen – ob sie nun in öder Wiederkehr die Arbeitsplatzbeschaffung als Ziel ihres Produzierens ausschreit oder aus krankhaft zum Strahlen verzerrten Gesichtern ihre Produkte selbst – allesamt in Prägnanz und Bedeutungsfülle nach dem semantischen Muster des Heil-mein-Führer gebaut sind. Sicher ist das Jargonritual der Mediziner nur eine Vokabel in der Psychosensprache der Wirtschaft – aber eine, die aus deren panzerstarrem Wortschatz nicht mehr wegzudenken ist. Es schirmt ihre Wahrheit flächendeckend ab; es redet mit in allen Grund-Sätzen ihrer Lüge: Wissenschaftler haben herausgefunden... Die Wissenschaft hat erkannt... Aber was uns hier unterbricht, in einer Aufzählung, für die wieder leicht ein simples Ecco stehen kann, ist nur wieder das Geschrei vom Anfang, das den Vergleich begriffen hat, untermischt diesmal mit dem Zusatz des Industriegebrülls –: ist er, der Vergleich, etwa nicht bewiesen? Beweist nicht auch die Sprach-Verwandtschaft zu allem Überfluß noch am Ende die Sippschaft der Sachen? Die Medizin, die nicht wahrhaben will, daß ihre heutige Identität aus allen Finsternissen ihrer Geschichte stammt, möge einfach diese Geschichte rekapitulieren, um in ihrem Protest kleinlauter werden zu können. Sie hat aus dem Paradigma schlecht gelernt –: weil sie es selber nur zu gut gelernt hatte? Als Alexander Mitscherlich seine Dokumentation über den Nürnberger Ärzteprozeß herausgab, gingen die ersten 10000 Exemplare an die Arbeitsgemeinschaft der westdeutschen Ärztekammern zur Verteilung an die Ärzteschaft; auch die Reaktion darauf möge rekapituliert werden: »Nahezu nirgends wurde das Buch bekannt, keine Rezensionen, keine Zuschriften aus dem Leserkreis; unter den Menschen, mit denen wir in den nächsten zehn Jahren zusammentrafen, keiner, der das Buch kannte. Es war und blieb ein Rätsel – als ob das Buch nie erschienen wäre. Nur von einer Stelle wissen wir, daß es ihr vorlag: dem Weltärztebund, der, wesentlich auf unsere Dokumentation gestützt, in ihm einen Beweis erblickte, daß die deutsche Ärzteschaft von den Ereignissen der verbrecherischen Diktatur abgerückt sei, und sie wieder als Mitglied aufnahm...« Wäre »verrückt« nicht auf längere Sicht doch der präzisere Ausdruck gewesen für die erblickte Rückung? Es wurde Nichts gelernt; es wurde nur verschoben, was gelernt worden war. Wie gut war es gelernt worden? Auch dies zur Rekapitulation: Von den etwa 90000 Ärzten des hitlerschen Reichs waren 45 Prozent Mitglieder der NSDAP; 26 Prozent waren in der SA; die Zugehörigkeit zur SS lag siebenmal höher als bei der übrigen Erwerbsbevölkerung. Wohin waren sie gerückt – wenn nicht einfach weiter? Nur 350 Individuen wurden für erwiesene Medizinverbrechen bestraft, 3,9 Promille also –: haben sie keine Intoxikation bewirkt? Waren die so eindrucksvoll mehrheitlichen Prozente »geheilt« von der Möglichkeit ihres zwangsneurotischen Charakterumbaus? Oder waren sie damals vielleicht nur noch nicht so weit darin gediehen, wie Jene es waren – so weit, wie sie's heute sind? Das System als Ganzes gibt Auskunft über auch seine Teile; das Potential Mengele reichte weiter. Es ist die eigentliche Erbschaft dieser Zeit, die entschlossen ist, alle ihre Möglichkeiten auszuschöpfen, nicht nur die ihrer äußeren Ressourcen, und in ihrer regressiven Verformung bereits einen derartigen Fortschritt gemacht hat, daß die Grenze zwischen Destruktion und Selbstdestruktion zu verschwimmen beginnt. Erbschaft –: ihr Gefährlichstes macht aus, daß sie hochgradig »ansteckend« ist; weit stärker als alle anderen neurotischen Reaktionsbilder wird der Zwangscharakter fortvererbt, und zwar unheilvoll darum, weil sein Defekt in der Topik des Erbträgers selber liegt, nämlich in der des Über-Ichs, und sich in dessen Kette als identische Erziehungsprägung durch die Generationen weiterreicht. Er wirkt generativ; er wirkt auf lange Sicht, möchte man sagen, sogar mutagen; er stellt weitere Zwangskollektive her, zeitigt weitere perverse Großkonstitutionen. Das Potential Mengele reicht in die unabsehbare Zukunft, und vielleicht durchkreuzt es diese selbst. Wie wäre ihm zu begegnen? Durch »Aufklärung«, ganz allgemein –: es gibt keine anderen Mittel, dem drohenden Absturz in die globale Psychose regulierende Ich-Kräfte entgegenzusetzen. Dies mutet freilich fast utopisch an in einer Gesellschaft, in deren sozio-diagnostischen wie administrativen Konzepten die von der Tiefenpsychologie bereitgestellten Denkmodelle gänzlich fehlen; sie sind so unentbehrlich wie nichts sonst. Denn die Sozialwissenschaften bleiben, für sich allein, rein sekundäre Disziplinen, solange sie, die nur Metaphern gleichsam zweiter Ordnung interpretieren, für Ursache halten, was bereits Folgeerscheinung ist, und vollends die Geschichtswissenschaft, die nur Dokumente sammelt und aus ihnen pragmatische Logiken destilliert, hat den methodischen Status des 19. Jahrhunderts nie verlassen. Da »die Welt« als Ausschnitt einer übergeordneten, mehr-als-3-dimensionalen Funktionsontologie nicht »erkennbar« ist (– ihre Gleichungen werden immer mehrere Unbekannte enthalten -), kann sie mit den empirischen Befunden der Realwissenschaften nicht ausreichend beschrieben werden: – diese bedürfen der Abstraktion ihrer Erfahrungen, hinein in den Bezirk von Hypothesen, die es riskieren, nicht mehr faktisch allein, sondern dematerialisierend metaphorisch zu beschreiben. Die Causa für die so wirr stiebenden Quanten der Geschichtsmetaphern ist nicht in ihnen selbst zu finden; zu suchen wäre sie in einer Subquantität, wie die theoretische Physik sie für ihre Vorstellung bereits zugelassen hat. Zu ihr aber hat keine wissenschaftliche Verfahrensweise bislang einen besseren Zugang entwickelt als die Psychoanalyse: die einzige Disziplin, zu deren Bedingungen überdies die Vor-Beseitigung irrationaler Affekt-Mitwirkungen gehört; sie scheint wie keine andere aufgerufen, ihre Beobachtung, ihr analytisches Auflösungsbemühen vom Einzelpatienten auf die kollektiven Pathologien auszudehnen. Ihre Hypothesen wirken nicht selten gewagt, ja phantastisch. Was hier mit ihrer Hilfe skizziert wurde – mit der Rücksichtslosigkeit eines Erstversuchs wie seiner nie vermeidbaren Fahrlässigkeit, kursorisch auch nur und des Zwischen- und Nach-Denkens beim Leser bedürftig, spröde und sperrig schließlich und mit mancherlei unerwünschten Nebenwirkungen des Bestrebens, jene Allgemeinverständlichkeit zu wahren, die imgrunde, wo der Beschreibungsweg vom chaotisch Konkreten ins Abstrakte der subquantitativen Kausalvernetzungen führt, ihre gewohnten Ansprüche zurücklassen muß, – was skizziert wurde also, nimmt gewiß teil am Risiko jener gewagten und phantastischen Wirkung. Aber wo die Konkreta widerspruchsfrei darin aufgehen, mag dem vielleicht entgegenwirken, was Freud den Hypothesen grundsätzlich zur Ehre anrechnete: die Möglichkeit nämlich, »Zusammenhang und Verständnis auf immer neuen Gebieten zu schaffen...«
Die Zusammenhänge, in die das Phänomen der Tierversuche blicken läßt, sind gewaltig; das Verständnis dafür ist klein. Wie kann es vergrößert werden? Die so überlegene Wissenschaft, die Einsprüche gern damit abfertigt, das alles sei nur emotional gesehen, macht unfreiwillig nur aufmerksam auf das, was ihr, die es täglich gelassen sieht, per Definition fehlt, ecco, und was hier weniger fehlen darf als irgendwo sonst. Aber die Emotion, das Mitleid für das unsägliche Leiden der Mitgeschöpfe, ist nicht der letzte Schluß des Wissens, so sehr sie auch immer der erste und bleibend gültige sein muß --: was in den Labors geschieht, ist abartig für jeden humanen Instinkt, gewiß; aber es ist zugleich auch nur ein Symptom – für eine Abartigkeit von archaischen Grunddimensionen, deren Sadismus längst die Labormauern sprengt und jeden Augenblick das Objekt wechseln kann. Die Frage, die unabweisbar nächste, ist fürchterlich genug: was geschähe, wenn ihm dieses millionenfache und dann vergleichsweise doch wieder kleine Objekt entrissen würde...; sie entzieht sich der Emotion per se und ist auch nicht mehr auszudenken, weil sie ans Ende selber zu denken hätte. Er sinnt, der Sadismus, auf dieses Ende unablässig, und jede seiner Anrichtungen ist dessen Vorentwurf. Einstweilen noch tragen die Tiere seine unerträgliche Endlast allein –: ist das Böckchen, dem der Laborkommandant die Sehnen durchschneidet, um Erkenntnisse über Sportverletzungen zu gewinnen, nur einmal mehr noch der archaisch rituelle Sündenbock für die Schulden der Welt? Wäre das die wahre Unersetzlichkeit des Stellvertreters für den Menschen, die der Golem, der weiß, was er will, so drohend behauptet? Ersatz zu sein für den sonst unaufschiebbar werdenden Strafvollzug am Selbst? Bloßes Mittel für das auch von Professor Schoeppe ausgedrückte Bestreben, bestes Gewissen abzusichern? Gar keine Frage mehr: Die Tiere tragen, einstweilen noch, die ganze Last des Verdrängten dieser Jetzt- und Letztzeit, die ihre Verbrechen nicht aufgearbeitet hat und für den Tag seiner Wiederkehr mit solcherart abgesichert bestem Gewissen ihren dann nicht mehr verdrängbaren Suizid vorbereitet. Wie könnte das Bewußtsein dafür vergrößert werden? Das Ziel liegt – im Gegensatz zu den Dingen, die so, wie sie liegen, dort leider nicht liegen – tief im Innern von Utopia: Wenn es gelänge, diese Vorbereitung zurückzunehmen und wenigstens die größenwahnsinnigen Politgehilfen des Golems auf ihr wahres Format als kleine Wahnsinnige zu reduzieren, dann würde wahrscheinlich auch von der Tierquälerei ein riesiger Motivdruck genommen und sie selbst als Problem der gesellschaftlichen Bewußtseinsbearbeitung zugänglich. Oder wäre gar das Umgekehrte möglich, als erste Buß-Umkehr überhaupt? Könnte die Zwangsgesellschaft das Tierproblem losen, das stellvertretende, wäre sie dann auf einmal vielleicht auch imstande, das nicht mehr verdrängte Problem ihrer Suizidneigung zu bearbeiten? Die Frage ist, nochmals, fürchterlich genug; nur zu viele Metaphern der Gesellschaftsarbeit stehen ihrer zuversichtlichen Beantwortung entgegen. Der Tiersadismus hat sich vorab in Weltgegenden ausgebildet, in denen die direkten Sadismus-Ventile, Folter und Mord, durch grundgesetzliche Sicherung derweil nicht in Funktion sind; diktatorische Staaten, in denen Gewalt gegen Menschen zur offenen Tages-Ordnung gehört, sind für Tiere ein weit weniger gefährlicher Boden; es war Hitler, der das erste deutsche Tierschutzgesetz erließ –: alles nicht sehr ermutigend für die Umkehrung der Lösung, die vielleicht nur die Umkehrung des Mordens ins Selbstmorden bringt. Trotzdem, sie muß versucht werden, die kleinere, vielleicht doch stellvertretende Lösung, nachdem die andere, größere, riesengroße gar so über alle Kräfte geht; sie würde ja, wo nicht einmal Geschichte bewußt ist, ein ganz neues, nie dagewesenes Bewußtsein zur Voraussetzung haben, nämlich das einer zeitenumfassenden Geschichtspsychologie, und erst von ihm erst den Anfang eines Entwicklungswegs gezeigt bekommen, gegen den sich der Fortschritt von der Hordenmonarchie zur Massendemokratie wie eine bloße Lappalie ausnähme. Wie Lappalien auch müssen sich, und allemal in einer Skizze, praktische Lösungs-Vorschläge ausnehmen, unverhältnismäßig angesichts der Ausmaße des Ungelösten, wie Satyrspiele nach der Schicksalstragödie – dürfte man sie überhaupt riskieren? Sollte man überhaupt noch Überlegungen anstellen wie etwa die, was wohl geschähe, wenn unter den Zulassungsbedingungen für den Tierversuch statt des bestandenen Hochschulexamens und ähnlicher Faxen ein bestandener Psychosentest aufschiene – und die Vorbehandlung sämtlicher durchführenden Personen mit Neuroleptika obligatorisch würde –: ob sich nicht die meisten Versuche, die bei abgeschlossenem Hochschulstudium mühelos gelingen, dann als überhaupt undurchführbar erwiesen? Man muß sich im Angesicht des zur Erde schreienden Unglücks, um das es geht, ohnehin immer wieder mit Ironie wappnen, um weiterreden zu können –: wie wäre denn weiterzureden nach der Tragodie? Vielleicht gerade mit Ironie – mit der ja oft sogar das Schicksal redet – gegen das Schicksal?
V.
»Es ist unglaublich, wie sehr die neuere Arztwelt gewöhnlicher Schule sich an dem Wohle der Menschheit versündigt... Wenn die getäuschten Unglücklichen bald oder später mit den unvermeidlich auf eine solche Behandlung folgenden Siechthumen, mit Geschwulst-Krankheiten, hartnäckigen Schmerzen an diesem oder jenem Theile, mit hypochondrischen oder hysterischen Beschwerden, mit Gichtübeln, Abzehrungen, Lungeneiterungen, stetem oder krampfhaftem Asthma, mit Blindheit, Taubheit, Lähmungen, Knochenfraß, Geschwüren (Krebs), Krämpfen, Blutflüssen, Geistes- und Gemüthskrankheiten u.s.w. zurückkehren, so wähnen die Ärzte, etwas ganz Neues vor sich zu haben, ohne die Quelle davon zu ahnen, und kuriren und kuriren nach gewöhnlichem Schlendrian der Therapie vergeblicher und schädlicher Weise darauf los, mit Arzneien, gegen Krankheitsphantome gerichtet, das ist, gegen Ursachen, den sich hervorthuenden Übeln angedichtet, bis der Kranke nach vieljährigen, immer gesteigerten Leiden, gemeiniglich durch den Tod, das Ende aller irdischen Leiden, aus ihren Händen befreiet wird...«
Es ist, noch einmal wieder, von Menschen die Rede, von Opfern und Tätern, von Vergangenheit auch, von Geschichte – nur auch von wieder einer, die unverwandelt fortwirkt – und wieder von den fortwirkenden Ärzten. Der dies gegen sie schrieb, 1828, war einer ihrer bedeutendsten, als Forscher wie als Heiler: Samuel Hahnemann, und daß er mitsamt seinen Entdeckungen nun schon 150 Jahre gegen sie Recht behalten hat, spricht für seine Bedeutung ebenso, wie daß er von ihnen erst in ferner Zukunft Recht bekommen wird. Er hat, als Psychologe, auch den Zwangscharakter ihres ganzen Systems erfahren und durchschaut – und nur das, was der Golem einmal daraus machen würde, lediglich ahnen können; er hat sich mit ihrer ganzen Zunft angelegt und den Kampf mit auch ihrem sadistischen Potential glänzend durchgestanden – kraft seiner Ironie wie seiner überlegenen Einsicht –: sollte man es ihm, nachdem ihm so viel anderes wahrlich heilsam nachzumachen ist, nicht auch darin nachzutun versuchen? Also die Ärzte, die Hauptdarsteller der Tragödie, – vielleicht auch die Hauptdarsteller des Satyrspiels?
Natürlich bleibt der Golem selbst der Feind und jene größere Lösung, die riesengroße, auf alle Restzeit die Aufgabe: die Industrie, die den Menschen zum bloßen Instrument ihrer allesfressenden Eigendynamik gemacht hat, selber für das Menschenwohl zu instrumentalisieren. Es ist ein Problem, über dessen Bewältigung die Geschichte freilich längst nicht soviel lehren kann wie über sie selbst und den von ihr gelieferten Anschauungsschatz; der ist wahrhaftig überausreichend groß, von der kollektiven Seelenverödung bis zur Leibeigenschaft, und bedarf keiner Vermehrung. Aber wie fern immer ein post-industrielles Zeitalter sein mag, es mit Einsichten anzubahnen gehört jedenfalls zu den allernüchternsten Erfordernissen der post-modernen Zeit. Für die praktische Anbahnung allerdings bedarf es bei diesem Gegner einer Gegnerschaft, die der Bürger auch bei erweitertem Bewußtsein nicht mehr zu formieren vermag, und da sieht es, über ihn hinaus, schlecht aus. Denn seine unersetzlichen Stellvertreter in den Parteien bieten ja wahrlich, und nicht nur im besonders trostlosen Moment, keinen sehr tatkräftigen Anblick, und man hat immer künstlichere Argumente nötig, sich den Eindruck vom Leib zu halten, daß ihre Haupttätigkeit darin besteht, ihre per se nicht genügend begründete Wiederwahl durch allerlei beliebiges Gaukelspiel zu sichern. Sieht man sie in die Betrachtung irgendeiner, zwar nicht neuen, aber neu herausgekommenen Golemtat versunken, der Bodenverderbnis etwa, der Wasser- und Luftvergiftung, so offenbaren ihre Redensarten bald eine ähnliche Kompetenz, wie als sie im radioaktiven Regen standen und nicht viel Besseres zu tun wußten, als sich die Dienstvilla über den Kopf zu ziehen –: sie haben nie ein Zukunftskonzept gehabt, zu schweigen von Ideen; in den ganzen dreieinhalb Jahrzehnten, in denen der Golem ihnen sein Wachstum vorführte, haben sie nur gefällig – und leider auch bezeichnend selbstgefällig – gelächelt und Eingriffe höchstens in seine Bestimmungshierarchie riskiert, in seine Automatik nicht. Sie haben nie ein Konzept gehabt –: nicht einmal das Wachsen des Straßenverkehrs haben sie leidlich hochrechnen und intelligenter beantworten können als mit dem Wachsenlassen der Straßen; von der Zukunft haben sie keine Ahnung als höchstens die blasse, daß sie viel Glück brauchen werden, um sie überhaupt zu erreichen. Das alles liegt, so widernatürlich es ist, nur allzu logisch in der Natur der »Sache«, und die Frage stellt sich in graziösen Stunden durchaus ein, wozu wir ihr Wirtschaften eigentlich noch brauchen, nachdem wir doch die Wirtschaft selber haben, die notfalls auch mit dem Außenministerium fertig würde. Der ganze Staat imponiert nicht eben durch Souveränität, wenn er's – sei es im öffentlichen Clinch, sei's nur in der Lobby – mit den einzelnen Machtsystemen der Systemmacht zu tun bekommt –: er geht mit ihnen diplomatisch um wie mit fremden Souveränitäten und handelt windige Kompromisse aus, bei denen der Auftrag seines eigentlichen Auftraggebers nicht selten in die Unkenntlichkeit schrumpft; nur gegen die Einzelkriminellen, die der doch bloßen Folgemetapher Terrorismus etwa, wendet er mit unter dröhnend die gesamte Staatsmacht auf, gegen die Megakriminellen des Systems beschränkt er sich auf beschwichtigende Gesten. Das wirkt um so trostloser, je herzlicher dieses zurückwinkt; man möchte den Beweis, wie sehr die Beiden Tarifpartner des nämlichen Automatismus sind, nicht unbedingt jeden Tag wieder erbracht sehen. Nein, der Sinn der schon zu langen Rede ist kurz zu fassen: Es fehlt, und überall, an jedem Vor- und Gegendenken gegen den großen Fraß, und die Nationen, die sich nach dem automatisch fressenden Golem schon freiwillig selber nennen, nämlich Industrienationen, werden den Abstichtag, an dem die Automatisierung auch der Freßanlagen komplett ist, allesamt wie ein giftgrünes Wunder erleben und wie den Blitz aus dem für heiter gehaltenen Himmel. Bliebe die Möglichkeit, daß der eigentliche Souverän selber ein Einsehen hat? Es läge ja, allerdings nur aus Vernunft, durchaus für ihn nahe, weil jener letzte Tag auch sein eigener letzter wäre, die Vollendung der Destruktion auch die Selbstdestruktion, und es wird uns als liebenswürdige Hoffnungsmöglichkeit von ihm selber und anderen oft nahegelegt. Aber nichts da: Handel und Industrie bei Fragen der Vernunft und gar der Humanität auch nur mitreden zu lassen, wäre ohnehin der liebe Leichtsinn selbst, und daß Konzernmanager über irgendein noch so kleines Talent zur Selbstverantwortung verfügten, ist wirklich nur mit blauen Augen anzunehmen: bis zu dem Punkt noch, wo sie sich als feinsinnige Kunstsammler aufführen, betreiben sie exklusiv blinde Gewinnmaximierung, und ihr sittliches Niveau wird von jeder Kellerassel mühelos übertroffen. Man kann sie jeden Tag in Ruhe auf den Mattscheiben betrachten: – das einzige Menschliche, was an ihnen auffällt, sind eigentlich nur die ausgebildeten Freßwerkzeuge. Wo immer sie kleine Konzessionen gemacht haben, ist es mit knirschenden Kiefern geschehen –: nein, es bedarf der Gegnerschaft, und zu der gegen sich selbst sind sie denkbar ungeeignet. So ungeeignet, leider, wie auch die einsichtige Bürgerschicht es bleibt – jene Minderheit, die dem Zwangscharakter hat entgehen können –: sie ist dem Zwangssystem, gar keine Frage, nicht gewachsen; sie darf sich, um Lebens oder Sterbens willen, nicht überschätzen. Sie muß sich, also, vorsichtig weise beschränken: auf die kleinere Lösung, auf einen Ausschnitt von Gegnerschaft, der über lang auch aufs Ganze unersetzlich stellvertretend wirkt, auf die schwächste Stelle, die das so unüberschätzbar Starke hat. Also die Ärzte –: ja, und wäre nicht sogar Aussicht, daß wenigstens sie dem Unterfangen mit ihrem, wie immer auch rudimentären, Einsehen entgegenkämen? Nichts da; Leichtsinn und Blauäugigkeit; auch bei ihnen knirschen die Kiefer, auch in ihren wohlgenährten Backentaschen krampft sich die Muskulatur des Zwangscharakters. Es ist nichts zu erwarten von ihnen –: so sehr die ganze Geschichtsmetaphorik darauf hinweist, daß es ein Großrezept sein müßte, was der Gesellschaft zu ihrer Genesung auszustellen wäre, und daß, die es ausstellen, die Mediziner sein sollten, denen die Diagnose der Krankheit zum Tode eigentlich irgendwann aufgehen könnte, – man braucht kein schwarzsehender Unglücks-Rabe zu sein, um prophezeien zu können, daß es dann bis zum St. Nevermore's-Tag dauern würde, die Diagnose falsch wäre wie die meisten zurzeit und das Rezept wiederum nur Chemie enthielte. Also gegen die Ärzte, wo es mit ihnen nichts wird –
– also, Satyrspiel, gegen die Hauptdarsteller hier wie dort, die schwächste Stelle im starken Stück – und das Chefpersonal der am Gesundheitwesen beteiligten Gruppen, wie das Fernsehen sich jüngst so zauberhaft ausdrückte, anläßlich der Mitteilung von wieder neuen Kostenerhöhungen in besagtem Wesen, das längst ein heilloses Unwesen geworden ist und wie das deutsche allgemein wohl niemanden mehr genesen läßt –: 160000 gibt es davon in der Bundesrepublik, die alle stark beteiligt sind, nämlich am Umsatz, und alle zwar nicht ihre, aber unsere Kosten erhöhen, – im Vergleich zu 90000, mit denen das gesamte, und gesündere, Deutsche Reich in den Grenqen von 1937 auskam –: Wachstum überall, wo es um die Wirtschaft geht – angefangen von den Kliniken, in denen heute in der Regel der Dunstkreis dieser Welt erstmals erblickt wird, wie auch das, leider weniger gesicherte, Licht jener anderen, bis hin zu den Bestattungsunternehmen, die sich just wieder über das Weihnachtsgeschäft zufrieden geäußert haben, – während nur die Zahl der Hebammen seit damals zurückgewichen ist, auf fast die Hälfte, was aber nichts weiter macht, da sie einen wesentlichen Wirtschaftsfaktor nicht darstellen –: ach, welch ein Anblick! Vollends wenn sie in corpore auftreten, in Bataillonen, Regimentern, Divisionen, ja als ganze Armee, die dann Bundes-Ärzte-Kammer heißt und in Wirklichkeit ein riesiger Saal ist, in dem beständig taktisch operiert wird –: da stehen sie, wie unterschiedlich auch nach Konstitution und Tauglichkeit, wie ein Mann, uniform in Titel und Kittel, Gerät bei Fuß, die Gesichter voller Entschlossenheit, den ganzen Erdball mit ihrer Tätigkeit zu überziehen und noch die letzten gesunden Landstriche zu erobern, die Münder voller Kauderwelsch wie Hyksos und Hunnen zusammen und die Taschen voller Pillen –; die wollen wir ihnen kurz umdrehen, diese Taschen –: was kommt heraus? Nach einer Statistikschätzung ein Vorrat von 2000 Stück, gleich rund anderthalb Kilo Chemie, pro Erwachsenenkopf und Jahr (und auch den Kindern stopfen sie immer mehr die Mäuler, nicht weil sondern weshalb die Kindererkrankungen rapide zunehmen, bis hin zum erschreckend gestiegenen Kinderkrebs). Die Wehrmachtsberichte des Golems liegen natürlich nicht sichtbar offen, sondern lügen offensichtlich; aber jeder der 36500 Apotheker im Lande kann zur Hochrechnung herangezogen werden. Grad vier bis fünf Ärzte reichen durchschnittlich aus, den Umsatz einer Apotheke mit den sprichwörtlichen Preisen zum Blühen zu bringen –: sollte man nicht wirklich, wo sich der Golem direkt nicht packen läßt, einfach sie beim Kragen nehmen, um ihn zu packen? Nun ist das Kausalitätssystem des Übels keine Kette, die sich mit dem bewirkbaren Bruch eines Gliedes endgültig unterbrechen ließe; es stellt vielmehr ein vielfältig verstricktes und auch die praktische Überlegung verstrickendes Netz dar –: geht man von den Greueln der Tierversuche aus, so wirken sie aufs Ganze der Chemiewirtschaft, sind aber selbst von dieser nur zum Teil bewirkt, weil ihre Extreme von der sich so nennenden Grundlagenforschung bewirkt werden, die wiederum zwar die Chemiewirtschaft bewirkt, aber nicht allein von ihr bewirkt wird, wobei die voll bewirkende und bewirkte Pharmaproduktion von deren greuelhaftem Ganzen lediglich 15 Prozent (mit allerdings einigen zig Milliarden Umsatz) ausmacht... so geht es fort, und die Verfilzung ist vollkommen. Aber wo immer man hineingreift in das Netz, greift man in einen Zusammenhang mit den Ärzten; an welcher Stelle immer man zupackt, um die Causa zu fassen, hat man stattdessen die Leute mit dem abgeschlossenen Hochschulstudium der Medizin in der Hand. Sie sind allüberall dabei, wo die große Destruktion sich rechtfertigt; sie sind die Hauptstützen sämtlicher Gesellschaften mit so ersichtlich beschränkter Haftung, die den Golem konstituieren; ihre Autorität allein ist die seine –: ja, sind sie, wenn nicht die Causa selbst, vielleicht doch deren wichtigste Handelsvertreter? Der Mittelpunkt der ganzen Intoxikationswirtschaft, die Pharmaindustrie, die ja doch eine Produktenfabrikation ist wie jede andere auch und zu gleichen Hochprozenten überflüssig wie jede andere auch, nämlich Erzeugung von Überfluß, von Unnotwendigkeit, von bloßen Vorformen nachmaligen Zivilisationsmülls, - sie bezieht ihren schillernden Nimbus einzig aus ihrer Verbindung mit dem Begriff »Gesundheit«, und die diese magische Verbindung herstellen, sind einzig die Ärzte, denen niemand die Gründe für den verhängten Konsumzwang mehr abzufragen wagt. Sie verstehen sich ja wahrlich nicht von selbst, diese Gründe; sie lassen sich nur verstehen, wenn man ihre durchgesetzten Rechte als reine Gewohnheitsrechte erkennt und durchbricht, und dann werden sie auf einmal in einer Weise bodenlos und unverständlich, vor der einem nur schwindeln kann. Denn nichts ist ja so wenig bewiesen wie der Zusammenhang zwischen Gesundheit und chemischem Mittelverzehr; im Gegenteil, rein statistisch nimmt die Gesundheit im gleichen Maße ab, in dem der Verzehr zunimmt, und wo die Genesung zustande kommt, sprengen die Verhältniszahlen von Deshalb und Trotzdem keineswegs den Proportionsrahmen der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Das alles müßte hochbedenklich sein, wo leidlich konekt und wissenschaftlich gedacht würde –: warum gibt es so wenig zu denken? Die Antwort könnte, kaum widerleglich, einfach die sein, die sich zu allen Zeiten immer wieder aufgedrängt hat: Weil, was so wenig zu denken gibt, gar keine Wissenschaft ist, sondern eine bloße Heilslehre, ein Kanon irrationaler, für die Vernunft tabuierter Grundannahmen, ein System von höchst ungewissen Erlösungsofferten –, und die sich am Erlös gesundstoßen, sind wie bei anderen Heilssystemen vor allem seine Priester. All die feierlichen Leute im weißen Ornat, die ihren geduckten Gemeinden das Gift reichen wie die Hostie: brächte man die Pharmafabrikanten um diese ihre nur aus Rauch und Weihe aufgeblasene Autorität, so stünden sie sofort als das da, was sie sind: nicht wichtiger, um nur das wenigste zu sagen, als Schnapsbrenner und Zigarettendreher – und endlich auch nur noch so schädlich wie diese, die man, wenn sie sich schon nicht mehr aus der Welt schaffen lassen, immerhin aus freier Vernünftigkeit meiden kann. Ja, man konnte sie durchaus entscheidend packen, die mit dem Begriff »Gesundheit« so magisch geschmückten Giftmischer des Golems, wenn man ihre Heilslehrer beim Kragen nimmt, die sie damit schmücken und für sie die Giftgemische direkt und indirekt austeilen: wenn es gelänge, diese Heilslehrer aus dem angemaßten Zusammenhang mit der Lebensgesundheit zu vertreiben und die Heilslehre als schlichten Aberglauben zu erkennen. Denn in jenem Zusammenhang gehören sie längst nicht mehr – und dies desto weniger, je mehr sie sich in den der Industrie gestellt haben: – sie ist, als Metapher, die Antithese zur Gesundheit überhaupt – wie die Maschine jene zum Menschen. Entsprechend hat das industrielle Maschinenbild vom Menschen auch ihnen und ihrem Denken die Weichen gestellt: auf ein Entwicklungsgleis hinaus, an dessen Ende die volle Automatisierung wartet, die Un- und Antimenschlichkeit schlechthin. Man sehe sich nur an, wie unbeirrt sie darauf fahren; man werfe einen Blick in ihre Betriebe, in denen die Apparaturen klappern, allen voran der rechnungsschreibende Computer: einen einzigen Blick nur - in ihre Praxis, die aberwitzig genug immer noch Sprech-Stunde heißt, obwohl in ihr lediglich die Geräte das Sagen haben, – auf ihre Behandlung, bei der das einzige, was die Hand noch tut und kann, die Verordnung der chemischen Ware ist, der Rezeptbefehl –: das alles sollte noch mit Gesundheit zu schaffen haben, mit »Heilen«, mit Therapie? Das alles sollte auf einen anderen Zweckeffekt hinauslaufen als auf wirtschaftliche Effizienz und Umsatz? Was sich steigert bei der ganzen Betriebsamkeit, ist denn auch nur dieser, die Gesundheit nicht. Und man braucht gar nicht das trostlose Resultat aus der Krankheitsstatistik beizuziehen, um zu wissen, was die zuletzt sind, die es auf diese Art erzielen, die Heilslehrer mit der chemischen Hostie: verkappte Betriebswirte sind es; Händler; Geschäftsunternehmer; eine weitere Sparte nur der Krämerkaste, die Produkte weitergibt und keinen Kunden, der ihren Laden betritt, ungeschoren wieder fortläßt, ohne ihm irgendwas verkauft zu haben, ob er's, gelindestenfalls, nun brauchen kann oder nicht; - und daß der Staat sie von der Umsatzsteuer ausnimmt, wirkt nur wie der konsequent reine Hohn auf den Mummenschanz. Je gesünder die Bevölkerung, desto kränker der Golem und umgekehrt –: Klippschülerlogik reicht aus zu erkennen, welches direkte Ziel die Giftverteilung zuletzt haben muß; die Gesundheit ist es nicht. Das Fraßwort Wirtschaftswachstum beschreibt auch die Medizinentwicklung seit dem Krieg auf so umfassende Weise, als seien beide dasselbe –: identisch ist jedenfalls ihr Ziel, und es ist hier wie dort längst erreicht. Längst hat der Gesundheitshandel jenes Stadium erreicht, wo nur noch Überfluß und Unnotwendigkeit erzeugt wird; wo nichts mehr getan werden kann, steigert er seine Aktivität ebenso wie da, wo gar nichts getan werden muß; das Zentralmotiv des Ut-aliquid-fiat ist die Gewinnmaximierung hier wie dort. Klippschülerlogik reicht aus auch zur Würdigung des Faktums, daß unheilbar Kranke, denen die Medizin – um den Preis einer rücksichtslosen Qualitätsreduktion des Lebens – das Leben um kurze Quantitäten verlängert, zuletzt, was alles auch sonst noch in ihrem Elend, ganz einfach Großverbraucher der Medizin werden –: ist bei der Aussichtslosigkeit des Intensiv-Therapierens in solchen Fällen ein anderes Motiv für das Therapieren anzunehmen als jenes, ganz einfach Großverbraucher zu bekommen? Man kann das alles in beliebig bunter Fülle mit Fallbeispielen belegen; sie reichen bis an den Horizont und belegen doch nur das immer gleiche: daß es sich bei dem berufenen Gesundheitswesen – und gemeint ist durchaus exklusiv das deutsche, das maßlos aufwendigste der ganzen Welt – um eine reine Kommerzsparte handelt, um ein aufgedunsenes Etwas, das ganz simpel Krankheitswirtschaft heißen sollte und nicht in nur zufälliger Parallelität, sondern in direkt kausaler Identität mit jenem Wirtschaftswunder zustande gekommen ist, dem es in nur wenigen Jahrzehnten glücklich gelang, das ganze Gesellschaftsleben sadistisch zu brutalisieren. Entsprechend ist der Erfolg rein wirtschaftlicher Natur: ein Profit, der jedem redlich arbeitenden Patienten den Atem verschlagen würde, bekäme er noch zu Gesicht, was alles ihm da für welche Leistungslappalien abgenommen wird: – er bekommt sie, Haupteffekt der lange schon durchgesetzten Direktabrechnung mit den Kassen, aber gar nicht zu sehen, die Gewinnliste der ihm auf- und abgelisteten Lappalien, und kann so nicht einmal jene aussondern, die einfach nur dazuerfunden sind, zu schweigen von der Möglichkeit, das unverschämte Ganze angemessen mit einer Ohrfeige zu quittieren. Wo jeder mit irgendwas getränkt applizierte Wattebausch als pompöse Heilmaßnahme (mit verhundertfachtem Materialwert) auf der Rechnung erscheint, die bloße Terminverabredung am Telephon als Beratung eines Patienten aufgeführt und für jede Rezeptunterschrift der Stundenlohn eines Facharbeiters kassiert wird, ist der Gipfel des schlauen Verfahrens Einzelleistungsvergütung erreicht: eine Ertragshöhe, von der andere Reparaturdienste, so weit sie's auch selber schon darin gebracht haben, nur schwelgerisch träumen können. Das ganze Krankenkassen-Prinzip, ursprünglich entwickelt, um die so unterschiedlich verteilte Leidenslast wenigstens als Kostenlast auf alle Schultern gleich zu verteilen, hat sich lange schon industriell pervertiert: zu einer Methode, von Allen zu nehmen, was der jeweils Einzelne gar nicht erbringen könnte; seit dem Krieg (ecco: »seit dem Krieg«!) ist es schrittweise ein raffiniert genutztes System zur Gewinnsicherung eines Berufsklüngels geworden, der zurzeit bereits vom gesamten Bruttosozialprodukt buchstäblich den Zehnten erhebt und jedes Jahr mit einer neuen Steuererhöhung aufwartet. Der Golem frißt und läßt auch die an ihm beteiligten Gruppen nicht verkommen, die ihm die Gesundheit seines Appetits bescheinigen; ihr Sozialprestige wächst unablässig weiter – bis hin zum Kollaps der von ihnen kostenpflichtig gemachten Sozietät. Ihm als dem eigenen Kollaps selber wirksam zu begegnen, mit eigenen Mitteln, fällt ihnen dabei auch im Traum nicht ein, so unabweisbar sich ihnen die Diagnose hier und da wohl aufdrängt; die Therapie ist nun einmal ihre Stärke nicht. Im Gegenteil, sie setzen unbeirrt weiter aufs grenzenlose Wachstum; ihr Standesbewußtsein steigt nicht mit dem Wissens-, sondern mit dem Kontostand; und ihr spezieller Berufswahn, allen Zufällen des Himmels und der Erde gewachsen zu sein, greift anstandslos aufs Allgemeine über – bis hinein in die Schlußvision des allgemeinen Untergangs, wo die Gesellschaft, der sie damit erfolgreich zu Kopfe gestiegen sind, sie schließlich als die einzigen Gesundheitsinhaber und -vertreter unangefochten durchs verstrahlte Siechenhaus der Welt schreiten sieht, um irgendeine nun endgültig fatale Letzte Hilfe zu leisten...
Entsprechend sieht ihr Selbstverständnis aus. Sehr stark treten sie auf im starken Stück, wie die Hauptdarsteller des Welttheaters überhaupt, Stars allesamt, und stellen sie sich, auf ihren Kongressen etwa, in Ensemble-Stärke den Photographen, so glaubt man schier die Chefetage der ganzen Menschheit vor sich zu haben: die Verfüger über die Totale Machbarkeit, die Herren und Damen über Leben und Tod. Tatsächlich hat kein anderer Berufsstand sich jemals derart als Kronenträger der Schöpfung aufgeführt: keiner, den Priesterstand einzig ausgenommen, versteht sich derart ungebrochen als den Weg zu Wahrheit und Leben, keiner pocht derart großspurig auf sein Ethos, bei keinem verbreitet auch der nur innere Monolog einen derart penetranten Geruch. Gebetsmühlenhaft redet er sich täglich immer neu ein Selbstgefühl ein, das aus bloßem Eigenlob besteht und angesichts des Verstands, daß es keiner Nachprüfung standhält, wahrlich allen Grund hätte, sich hermetisch geheim zu halten; geheim gehalten wird, ebenso einzig, aber nur das Treiben, auf das es sich gründet. Können sich die Standesgenossen darüber – und es ist als Mysterium ja dürftig genug – nur in verklemmtem Jägerlatein äußern, so fließt ihnen der Mund sofort geläufig über, wenn es um ihre Selbstdarstellung als Mystagogen geht –: da stehen sie, jeder ein ganzer Sanhedrin, vor ihrem bißchen Bundeslade mit einer Feierlichkeit, als hätten sie mit dem Schlüssel dazu den zu sämtlichen Schätzen der Erde, und in der unerschütterlichen Gewißheit, daß uns ihr auserwähltes Mienenspiel für den verwehrten Eigeneinblick in den alten Medizinkasten voll zu entschädigen habe. Es ist wahrhaftig eine staunenswerte Erscheinung, beschreibbar nur in religiösen Metaphern; bei den weltlichen Wissenschaften geht es ja eher grad umgekehrt zu. Staunenswert doppelt: denn was sonst nur bei sehr einfältigen Mitmenschen zu erreichen gelingt, die jedem Physiklehrer die Zuständigkeit für den Kosmos kreditieren, ist hier als zinslos gewährter Kredit von fast der ganzen Menschheit unterschrieben worden: eine Autorität, wie sie in der Gegenwart selbst den Religionen nicht mehr eingeräumt wird. Sie entstammt, diese Autorität, auch durchweg der Vergangenheit, der sie nur leider noch nicht angehört –: sie ist absolutistisch, monarchisch, unumschränkt in allen ihren Ansprüchen, und der Feudalstaat im Staate, den sie formiert, versteht sich als Verband ungezählter hochherrschaftlich regierter Duodez-Fürstentümer. Fürstlich auch hält sie Hof, fürstlich auch wohnt sie (und wenn nicht in Schlossern selbst, wie gar nicht so selten, dann doch in deren modernen Äquivalenten); fürstlich-hochherrschaftlich läßt sie die Untertanen, die das Leiden macht wie umgekehrt das Untertansein leidend, in ihren ganz ungeniert so genannten Wartezimmern warten, als kämen sie um eine Audienz ein, – ohne jede Befürchtung, daß die Unfähigkeit, auch nur den Stundenplan der Ordination ordentlich zu bewältigen, auf noch weitere, sehr viel folgenreichere Insuffizienzen schließen lassen könnte. Wo die Untergebenen gar Kollegen sind, erfüllt sich das Herrschaftsmuster in reiner Form: die Chefärzte der Kliniken absolvieren ihre Auftritte wie die fleischgewordene Souveränität und das Hofritual wie die leibhaftige Majestät Wilhelm, unverzeihlichen Angedenkens, vom derben Witz bis zur Demütigung aller anderen Grade; jeder Assistenzarzt, jeder Praktikant weiß schaudernd davon zu erzählen (weiß auch zumeist noch einiges mehr, was er nicht erzählt) und dankt dem Schicksal, daß sie von der ihnen verliehenen Gewalt über Leben und Tod nicht jeglichen Tag Gebrauch machen. Daß sie grundsätzlich Rechts wählen, mag ja recht sein (obwohl sie ungescheut auch Links ankreuzen könnten, wo ihnen die Handwerkslegung ebenso wenig blüht); aber imgrunde wählen sie Rechts von Rechts, nämlich Königstreu, einfach weil sie von Natur die Monarchie für die natürlichste Lebensform halten und aus der allgemeinen Geschichte schließlich auch nicht mehr lernen können als aus der ihres Standes. Sie sind Souveräne, eine Chefkaste im Quadrat, und entsprechend gehen sie mit den anderen Souveränitäten der Gesellschaft um: mit dem »Volk« sowieso, aber auch mit seinem Machtabstraktum Staat. Sie bitten nie; sie haben diplomatische Vertretungen, die fordern; sie stellen Ultimaten. Wir warnen den Gesetzgeber... heben ihre Verlautbarungen habituell an, worauf dann regelmäßig die Drohung mit einem empfindlichen Übel folgt, einer landesweiten Kostenerhöhung oder ähnlichem. Sie drohen unablässig, die Kittel-Titel-Machthaber: längst kündigen sie in aller Offenheit Gesetzesuntreue an, falls man ihnen von Staats wegen lästig falle, und vereinbaren untereinander, etwa Staatsanwälte nicht mehr zu behandeln; ein Dr. Grundmann, Präsident eines ihrer Machtblöcke, fordert rigoros ein Bußgeld für alle, die beim Krebs-Vorsorge-Geschäft nicht parieren – ganz wie sie bis zur erst 1983 erfolgten Aufhebung der Impfpflicht die Polizei eingesetzt haben, um sich die Opfer vor ihre riskanten Prozeduren treiben zu lassen, obwohl sie deren Riskanz jahrelang allmonatlich in ihren Fachblättern beschrieben finden konnten. Sie haben's gar nicht nötig, dergleichen zu lesen, weil sie doch sowieso schon Alles wissen, und besuchen Fortbildungskongresse willig nur dann, wenn sie auf Korfu stattfinden und die Reise ihnen von der Industrie bezahlt wird. Aber selbst dort lernen sie kaum etwas dazu, und tragen ihnen gar jüngere Kollegen, denen bei ihrer Gottähnlichkeit bange geworden ist, Vorsichtsappelle vor, so kann das leutselige Schulterklopfen im Nu zum empfindlichen Hieb werden. Als Machthaber sind sie intolerant bis zur Unfehlbarkeit: unablässig möchten sie Abweichlern und Außenseitern die Ausübung verbieten; unablässig liegen sie dem Gesetzgeber auch mit Denunziationen in den Ohren. Geht es um alternative Heilmethoden, die dem leichthändigen Chemiewirtschaften das vergiftete Wasser abgraben konnten, um die Akupunktur etwa oder die Homöopathie, so droht ihnen dabei freilich die ganze unfehlbare Souveränität aus den Fugen zu geraten –: man sieht mit Erstaunen, wie sich auf einmal selbst höchstkarätige Titelträger wie die hinterletzten Narren aufführen und einem im Handumdrehen beweisen, worum man sie gar nicht gebeten hatte: daß nämlich auch ein doppelter Doktorhut den darunter hockenden Kopf nicht vor Holzwurmbefall schützt. Da haben sie plötzlich die ganze Skepsis der Welt zur Hand, zeigen sich tiefsinnig bedenklich und geben der Empirie ihrer besten Kollegen nicht den mindesten Kredit; erscheint dagegen der Pharmavertreter am Rezeptschreibtisch, so erstrahlt auf den eben noch verantwortungsvoll empörten Gesichtern die schiere Zutraulichkeit: – sicher, Faulheit ist das Dritte im Vergleich; aber die Motivation zur Faulheit ist einmal diese und einmal jene. Empirie der Kollegen: – oder vertrauen sie ihnen nur darum nicht, weil sie Kollegen sind? – weil sie genau wissen, wie wenig ihnen selber zu trauen wäre? Nun wehrt sich die Menschheit ja tapfer gegen die über ihr auftrumpfende Ignoranz und gibt sich geduckt die Erfahrungen weiter, wie man möglichst gesund lebt und notfalls mit kleinen harmlosen Maßnahmen und Mitteln den irritierten Leib gesund macht und erhält. Aber auch das möchten ihr die Herren am liebsten verbieten –: der Patient soll unwissend sein und bleiben, wie's dem Untertan zukommt, der die Hohe Politik eh nicht begreift, und ihnen beim Machtpoker ja nicht in die leeren Karten gucken, mit denen sie gewinnen wollen. Gesundheit – nur aus der Apotheke! liest man imperatorisch auf Tragetaschen der Institutionen mit dem altmodisch frakturierten großen roten »A« –: manchmal gelingt es, des Wahnsinns mit Methode als eines der Methode in einem einzigen Fürstenwort habhaft zu werden. Nun mögen ja die klinisch Irrsinnigen unter den Fürsten zu den seltenen Ausnahmen zählen, so ungescheut manche, weil die Kollegen von der Psychiatrie ja gewiß nicht eingreifen, ihre Symptomatik auch öffentlich spazieren führen – wie der vollendet gütig dreinblickende Professor White aus Cleveland/Ohio, der seit einem Vierteljahrhundert Tierköpfe transplantiert und nun endlich so gern auch Menschenköpfe auswechseln möchte. Aber was sich hier und da als einsame Spitze zeigt, ist die eines Eisbergs, und die geistige und seelische Unterkühltheit definiert längst das Ganze und seinen bedrohlichen Kollisionskurs –: das Selbstverständnis der Ärzteschaft, ihre Herrschsucht, ihr Prestige-Anspruch, ihr religiöses Exusie-Bewußtsein, ihr Omnipotenzwahn –, das alles stellt eine reine Psychosenform dar, mit der am Leibe jeder nicht durch das abgeschlossene Hochschulstudium der Medizin gedeckte Normalmensch in jeder ihrer psychiatrischen Kliniken alsbald ins nächste geschlossene Zimmer gebeten würde. Denn es hat mit der Realität, der tristen, wie immer betrüblichen, alle Wünsche offen lassenden, nichts zu tun; es ist, als Ausdruck des Selbstbewußtseins von Wissenschaft, einmal mehr ohne wissenschaftliche Basis; es ist, schlicht und einfach, nur falsch.
Nun wollen wir gerecht sein, möglichst, so wenig der Gegenstand es in der Regel auch verdient –: Nichts gegen die Ausnahmen der Regel! Kein Wort gegen die durchaus vielen Einzelnen, die im Lauf eines immer nachdenklicher stimmenden Ordinationslebens wirklich zu heilen lernen und mit Herz, Mund und Händen täglich das immer erdrückendere Kranksein explorieren; kein Wort gegen die wahrhaft noch Mit-Leidenden, die täglich der ganze Jammer der törichten Menschheit anpackt und die sich davon wirklich noch ergreifen lassen; kein Wort auch gegen die grandiosen Chirurgen, die heute schon das Unbeschreibliche zu tun vermögen und morgen noch mehr werden tun können – (diverses freilich schon gegen ihre bereits vom Automatismus erfaßten Indikationen: man muß nicht dauernd tun, was man notfalls kann); kein Wort schließlich gegen die Virtuosen des Notfalls überhaupt, die den Körperkräften im entscheidenden Moment zu Hilfe kommen und das Versagen aufzufangen wissen, auch mit Chemie, durchaus, aber ebenso mit bedachtester Vorsicht – und dem Respekt vor jenen als dem immer Stärkeren, das die eigentliche Arbeit zu leisten hat und von dem auf längere Frist die eigentliche Gesundheit kommt; nur die kurzfristige Beihilfe dazu kann manchmal auch aus der Apotheke kommen... Nichts gegen die Ausnahmen, die sie alle leider sind; nichts gegen die wenigen Guten Menschen in der garstigen Regel –: es gibt sie, wie es die vielen Bösartigen gibt, die Schmerzenmachend, leidenlassend, schädlich sind; es gibt sogar, aus jenen, denen der Zusammenhang zwischen sich und den Weltübeln aufgegangen ist, eine Vereinigung »Ärzte gegen Tierversuche« und wird vielleicht, wer weiß, dermaleinst eine ebensolche »Ärzte gegen Ärzte« geben. Nichts gegen sie und ihre Wohltaten; mehr aber, viele Worte gegen ihre Wenigkeit: wie viele, wenige mögen sie sein? Wie viele, sehr viele die Andern? Man möchte der direkten Frage gern ausweichen, um nicht gänzlich in der Depression zu versinken, die der allgemeine Anblick bereitet; aber sie stellt sich unabweisbar und müßte, es hilft nichts, irgendwann und - wie präzis beantwortet werden –: nun – nur, wie? Durch eine, freilich sorgsam verdeckte, Repräsentativumfrage vielleicht - statistisch einwandfrei ermittelnd – nämlich bei jenen, die es zu ermitteln gilt – bei den Repräsentanten unseres so selbstbewußten Gegen- und Berufsstands selbst? Wenn sie uns mit eigener Stimme zu Protokoll sprächen, was gegen sie spricht –, hätte das, oh es nun Alles wäre oder Nichts, Beweiskraft genug? So tragisch die Sache ist und das Ergebnis ausfallen dürfte, fast mochte man allen Ernstes eine Probe aufs Exempel vorschlagen, einen grpßangelegten Menschenversuch (den freilich das BGA diesmal kaum durchführen würde): daß nämlich ein integrer (und gesunder) Probant mit einer fest umschriebenen, sorgsam ausgeklügelten und einstudierten Leidenssymptomatik durch die ganze Republik zöge, um sich von unseren Probanden diagnostizieren und therapieren zu lassen –: der Welt würden mit Sicherheit die Augen übergehen, wenn sie – gesetzt, er kommt lebend nach Hause und kann berichten – erführe, was alles über ihn behauptet, mit ihm gemacht und ihm verordnet worden ist. Das Ergebnis müßte, nicht zuletzt durch seine phantastische Vielfalt, das Vertrauen zur Medizin und ihrer gemeinsamen wissenschaftlichen Basis zerrütten: – das ist wünschbar, nicht um die leidende Menschheit noch mehr zu deprimieren, sondern um den deprimierenden Zustand endlich ans Licht zu bringen. Nichts gegen die Ausnahmen, die dann auch leuchtend zutage kämen, die wahren Therapeuten und Heiler; es mögen gern, vielleicht, Zehntausend sein. Aber alle Worte der Welt dann gegen die organisierte Bande von Wegelagerern, die sich als System die Ärzteschaft nennt und der Menschheit immer dreister la bourse et la vie abfordert...: ach, das sei übertrieben? Das sei nun doch, Satyrspiel hin oder her, nur noch eine Karikatur? Es wäre dann eine, die zumindest den Konsens von zweieinhalb Jahrtausenden für sich hat – sehr im Gegensatz zur Medizin, die ihre unfreiwilligen Selbstkarikaturen in jeder Generation wechseln muß. Denn seit der Antike haben wir's schriftlich, in klassischer Prosa wie in barocken Epigrammen, welche immer gleiche Erfahrung die – zumindest westliche – Menschheit mit ihren selbsternannten Heilsbringern gemacht hat –: ausgeplündert kam sie sich vor und systematisch ins Grab gedrängt, nicht mehr und nicht weniger, und selbst den heutigen Medizinern bleibt, wenn sie sich historisch die überlieferten Mittel jenes Drängens ansehen, der Widerspruch im Hals stecken: – sollte, was in der Literatur steht, etwa ausnahmsweise einmal nicht die Wahrheit sein? Es ist jedenfalls, was über die Ärzte darin steht, ein felsenfester Topos geworden, ein Klischee geradezu, wie es nur durch die Ewige Wiederkehr des Gleichen zustande kommt, und selbst die moderne Nachrichtensprache hat nichts Neues zu melden –: 1979 stand's in allen Blättern, und keineswegs auf der Witzseite, wie bei einem dreimonatigen Bummelstreik der Ärzte im Staat New York (und bei anschließender Wiederholung der Aufführung in noch drei europäischen Ländern ebenso) die statistische Sterbefrequenz ganz wundersam zurückgegangen sei: – ja, sollte, was in der Zeitung steht, nicht ausnahmsweise auch einmal die Wahrheit sein? Versicherungen könnten zur Verifizierung den Lebensläufen der 4o-, 6o-, 8o-jährigen nachgehen, die sie zu auch ihrem Leidwesen tot im Wochenblättchen lesen: wie weit die Ärzte in ihr Leben eingegriffen haben; es ist vielleicht ja längst schon geschehen und nur nicht öffentlich; es wären Statistiken denkbar, vermutbar, wahrscheinlich, die zu einem veritablen Volksaufstand ausreichen müßten. Daß die Fahrt in die Klinik eine sehr abenteuerliche Unternehmung ist, bei der man über alle möglichen Tugenden bis hin zur Todesverachtung verfügen muß, und am Ende, wenn's denn in Sicht ist, der sicherste aller Wege ins Grab, könnte ein bloßes, wenn auch eindrucksvoll sich ausbreitendes, Ressentiment der Volkesstimme sein; im Prinzip aber steht es, nur gelinder ausgedrückt, als mahnende Befürchtung, auch in der nie zum Schweigen gekommenen MedizinKritik der großen Medizindenker selbst, und zwar seit eh und je, quer durch die Zeiten, von Paracelsus bis Hahnemann, von Bleuler bis Weizsäcker. Tatsächlich imponiert am Lebensflug sehr alt gewordener Menschen vor allem der große Bogen, den sie zeitlebens um jede ärztliche Praxis herum gemacht haben –: nun gut, das könnte das pure Glück der Konstitution sein, infolge dessen sie's nicht nötig hatten. Gesunde sind solche, die nie zum Arzt, Kranke solche, die dauernd hin müssen –: das ist noch logisch und, fünf gerade, in einer Richtung kausal einwandfrei gegründet. Aber man wird den Verdacht nicht los, daß es auch in der anderen, umgekehrten Richtung einen zwingenden Kausalzusammenhang gibt: krank sind, die zum Arzt laufen, weil sie zum Arzt gelaufen sind... Samuel Hahnemann begann seine subtilen Therapien grundsätzlich damit, daß er sämtliche Medizinen aus dem Fenster warf, die seine Kollegen verordnet hatten, – sehr zu Recht, wie sogar die heutigen Kollegen einräumen, schauen sie sich an, was die damaligen alles verordneten; es war ja auch haarsträubend. Wer die schulmedizinischen Kuren früherer Jahrhunderte betrachtet, wird wenig finden, was nicht einfach nur schädlich war und absurd; man lese nach, wie dieselbe Krankheit vor 200, vor 100, ja vor noch 50 Jahren behandelt worden ist, und betrachte dabei zugleich die aristokratische Miene, mit der die Nachfolger jener Stümper auf die damalig jeweilige Stümperei zurück- und herabblicken –: als wären sie tatsächlich zu Verstand gekommen! Aber die heute derart reichsunabhängig abgehoben lächeln, wenn von altmodischen Rezepturen die Rede geht, tun selber in ihrem unvergänglich mittelalterlichen Selbstbewußtsein nur das, was im nächsten Jahrhundert belächelt wird, und die ausgeschrienen Wundermittel von heute sind nichts weiter als die Rückrufe von schon morgen und das Gespött der Nachzeit. Vielleicht gar deren Erschauern und Grauen; wer weiß, wie weit die Einsicht bald schon, doch und doch, gelangt. Befürchtung, Verdacht: daß sie am Ende Alles rückrufen muß, was die Feudalherrn uns an übererbtem Besitzanspruch in die Gegenwart geschleppt haben, von der Antike her wie von Descartes, und zuletzt dies Alles als Wissenschaft überhaupt. Denn hinter dem Erschrecken, das dem reinen Mitgefühl aus dem Anblick all der Legionen von Hekatomben von Opfern erwächst, quer durch die Zeiten, quer durch die Gegenwart, steht riesig ja der ganz abstrakte Schreck: es konnte sich bei dem gesamten menschenopfernden Kultus wirklich bloß um eine künstliche Heilskonstruktion handeln, um eine, schon gesagt, bloße Glaubenskonfession und–meinung, um eine Pseudowissenschaft, und ihre Heilerfolge wären zuletzt nichts weiter, als was die Statistik nur zu beängstigend nahelegt: quantitativ jene Prämie, die von der Wahrscheinlichkeitsrechnung auch aufs blinde Tasten gesetzt ist. Eine Pseudowissenschaft: Auf der einen Seite wird in keiner Wissensdisziplin so ungebunden und skrupellos in die Gegend probiert und praktiziert; auf der andern hat auch keine einen so starren Automatismus ausgebildet, um die Hinterfragung ihrer Prämissen zu unterbinden, eine Dogmatik, wie sie in der Lehren-Geschichte immer da erscheint, wo die praktische Vernunft das Gelehrte zu überwältigen droht. Das Ineinander der beiden Tendenzen offenbart das Zustands-Unbewußte der Medizin zur Fatalen Genüge –: sie weiß in der Theorie, daß sie falsch sein könnte – darum sucht sie so akribisch den Automatismus; sie weiß in der rationalen Praxis, daß sie falsch ist – darum sucht sie so akribisch in Neuland zu gelangen. Sie umgibt sich mit Mauern, um sich zu schützen, und stürzt, sobald sie Ausgang hat, in panischer Klaustrophobie über Feld, Wald und Wiese, um es vor dem, was sie dort sieht, alsbald wieder mit der Angst zu bekommen und in den Schutz zurückzulaufen: – so geht es hin und her und durcheinander, auf eine so chaotische Art, daß einem um die Betreffenden fast ebenso bange wird wie um die Betroffenen. Tatsächlich sind sie ja selber auch opfer ihrer selbst, und auch ihnen selbst gegenüber soll uns das Mitgefühl nicht ausgehen –: sie wissen nicht besser, als sie's ihren Patienten sagen können, wie man sich richtig ernährt; sie holen, wie sie's jenen anbefehlen, auch die eigene Gesundheit nur aus der Apotheke; sie verstopfen und vergiften sich, ganz wie jene auch, ganz wie man's ihnen für jene beigebracht hat, und nach zwei Jahrzehnten sind sie nicht besser dran als sie: da hocken sie dann mit ihnen, nur noch durch den Kittel unterschieden, kurzatmig und von allen Häßlichkeiten des Leibes und der Seele zusammengedrückt, mit verpfuschtem Stoffwechsel und versagenden Organen in ihren Praxen und lassen sich von sich selber den Rest geben: – wieso sind Ärzte eigentlich oft so ungesund dick? Man muß doch, wenn man auch nur ein bißchen von seinem Körper-Ich weiß, mit 50 Jahren nicht aussehen wie ein Bottich – und im Gesicht wie ein vorjähriger Kellerkeim! Ist es nur die erwirtschaftete Wohlhäbigkeit, was ihnen die Vernunft verdunkelt, und nicht die Unvernunft ihres Wirtschaftens einzig und allein? Wieso haben Ärzte statistisch keine höhere und gesündere Lebenserwartung als der Durchschnitt ihrer Opfer, ja eher eine geringere und kränkere? Nur weil es ihr »Schicksal« wäre, was immer das ist, – nicht einfach weil sie, mit Zugang zu jedwedem chemischen Dreck, sich selber noch hemmungsloser zu kurieren suchen als jene? Denn jene, die Patienten, haben immer noch eine vernunftslistige Chance und nutzen sie auch, weil der Gläubige es im Glauben doch nie so weit bringt wie der Priester –: schätzungsweise die Hälfte aller verordneten Medikamente bleibt unverzehrt, und sie dürfte es sein, der die Heil-Bilanz der Verordner ihre paar Lichtseiten verdankt; – erforscht werden die Zahlen nicht, weil sie sich ja schon bezahlt gemacht haben, aber man rechne nur hoch, was in den Haushalten herumliegt. Mitleid mit allen Opfern –: auch Privilegien wenden sich manchmal gegen ihre Inhaber, die sie sich herausnehmen, und die Hölle ist nicht allen so sicher wie denen, die sie predigen. Freilich, auch da beginnt die innere Gespaltenheit bereits das Äußere zu spalten: Immer weniger Chirurgen lassen im eigenen Ernstfall so an sich selbst herumschneiden, wie sie's mit ihren Patienten tun; immer weniger Internisten reden sich selber so wie ihren Patienten ein, daß etwa Bronchial-Ca mit nennenswerter Gesundungsaussicht operabel sei oder daß man mit einem Anus praeter doch ganz normal leben könne; – und der Zahnarzt, der sich selber Amalgam in den Mund packen läßt, ist inzwischen auch mit der Lupe zu suchen. Was sie da nicht-tun, könnte man ja als schöne Einsicht preisen, rückte es nicht ihr davon unbehelligtes Weitertun in ein doppelt dubioses Licht: indem es nämlich verwehrt, ihm die relative Unschuld des Vorsatz- und Tateinsichtsmangels zuzusprechen. Aber einstweilen mag diese Unschuld noch bei der Mehrheit sein, und die Dynamik der Selbstaufklärung bleibt hinter der anderen, der immer geschwinderen, der Selbstautomatisierung zurück. Sie bewegt alles, was in der Medizin noch Entwicklung heißen dürfte, ob in der Klinik, ob in der Praktiker-Praxis – ob in der Diagnose, ob in der Therapie: hin zum konsequenten Endpunkt der Nosologie der normierten Sache. Dieser ist durchaus schon in Sicht, zurzeit in der klinischen Erprobung noch etwas ungefüge zwar, aber bald wahrscheinlich schon handlicher und bis zur Serienreife verkleinert: der totale Computer, in den der Patient geschoben wird wie in einen Backofen, in dem ihm vollautomatisch sämtliche Körpersäfte abgezapft und mit den von der Bundesärztekammer festgelegten DIN-Werten verglichen werden, in dem er von Sensoren begrapscht und abgetastet, geknetet und durchgewalkt wird und schließlich an der Mündung, die ihn wieder auswirft, sein Chemiepaket verpaßt bekommt, die Panazee der Industriegesellschaft...
Tatsächlich ist das keine Vorstellung à la Orwell, sondern längst schon im Prinzip die Wirklichkeit – nur noch ein bißchen täppisch in der Durchführung und, als Erdenrest älterer Zeiten, imperfekt. Denn wo es früher der in jedem Sinne menschlichen Hand bedurfte und in langer Praxis zu Spitzengefühl gebrachter Finger, greifen heute längst die Apparate zu und durch, um die Normdiagnose zu erbringen; jeder Quacksalber hat sein Röntgengerät in der Chrombude stehen und schaltet's bei jeder Gelegenheit so ungehemmt ein wie vor 50 Jahren die Schuhläden, die's heute nicht mehr dürfen (und daß es manchmal sogar gerechtfertigt ist und zur exakteren Erkenntnis verhilft, erhöht die Heilungschance ja noch lange nicht – im Gegenteil eher, weil die geschwächte Heilungskraft des Organismus es nun noch zusätzlich mit den destruktiven harten Strahlen aufnehmen muß). Und jede Praxis hat eine Tür, an der das Wort Labor so impressiv erstrahlt wie nachher auf der Rechnung, obwohl dahinter meist auch nur ein Automatismus sein Wesen treibt, der in einer mittleren Schachtel Platz hat. Unablässig fahnden die Praktiker – um nur den simpelsten Ritus zu nennen – nach pH-Wert und Glukose, nach Erythrozyten und Hämoglobin, nach Calcium und Ketonkörpern, nach Albumin und Hilirubin und Urobilinogen, als seien es die Ur-Sachen überhaupt, und der Patient sitzt beklommen nebenan vor ihrer strengen Gelehrsamkeit, der nichts entgeht, und schließt aus seinem eigenen Verhalten, daß auch die Krankheit vor ihr klein beigeben müsse: dabei tunken sie bloß Teststäbchen ein, die sich jeder in der Apotheke selbst besorgen kann. Das mochte ja alles noch sinnvoll sein, und sei's um der wenigen Fälle willen, wo es nicht automatisches Brimborium ist, sondern Anlaß zu weiterer Exploration; aber in der Regel folgt ihm bloß die ehenso automatische Behandlung –: haben sie wirklich einmal etwas entdeckt, wo man aufpassen sollte, eine kleine Nitrat-Nitrit-Reaktion etwa, so schreiben sie nur einfach, faul und »für alle Fälle«, ein Breitband-Antibiotikum aus, wo sie früher immerhin in einem wirklichen Labor ein Antibiogramm machen ließen oder wenigstens durchs Mikroskop ins Sediment spähten. Andererseits entfalten sie, wenn sie Blut geleckt haben, eine wimmelnde Aktivität und verbrauchen die Hälfte der GOÄ-Posten, um sich gelehrt aufzuführen –: wackeln die Transaminasen ein bißchen (um am nächsten Tag wieder ganz anders zu sein und endlich sogar unauffällig, wenn die Medikation auf Null geht), hat der Patient eine leicht vergrößerte Leber, schaut er etwas vergilbt drein und dreht gar der Welt eine Schnapsnase, so wollen sie am liebsten gleich eine Laparoskopie machen und diverse Probe-Biopsien; aber ist dann der zirrhotische Umbau wirklich einmal manifest, so stehen sie auch bloß mit düsterem Nicken da, weil sie sich's schon gedacht haben, doch so ohnmächtig wie ihre aus dem Befund abgeleiteten Verordnungen. Angesichts der Ohnmacht, den wirklichen Grund- und Endleiden wirksam zu Leibe und Seele zu rücken, hat sich die praktische Auffassung durchgesetzt, daß die Diagnose, als gelingendes Immerhin, schon das Eigentliche sei, ja als Anlaß zum Ut-aliquid-fiat so gut wie die Therapie: – Krebsvorgeschehen erkennen heißt Krebs verhüten! schreiben sie in ihren Anzeigen: ach, dem ist ja mitnichten so, ganz abgesehen davon, daß sie kausal vom Vorgeschehen so wenig wissen wie vom Krebs selbst. Was erkennen sie überhaupt – außer der Fata Morgana jener Kausalität, die in ihren Dogmen festgeschrieben steht? Was wissen sie überhaupt – außer den Spielregeln des Automatismus, zu denen doch wirklich nicht viel Wissen gehört? Was in den Praxen getrieben wird, ist nicht ein Gewerbe mit gelegentlichen Kunstfehlern, wie diese Banausen ihren Pfusch nennen, wenn er nicht mehr zu vertuschen ist, sondern eine einzige Kette von Nicht-Kunst. Sie können Nichts. Sie bringen Industriewaren unter die Leute, und welche es zu sein haben, lassen sie sich blind von den Herstellern vorschreiben, während sie früher immerhin noch en detail den Herstellern vorschrieben, nämlich den Apothekern, was sie zu mischen hatten –: fragt man sie geradheraus, warum sie die Schachtel da verordnet hätten und keine andere, so kommt nach ein paar allgemeinen Werbetexten zuletzt immer nur noch der eine gleiche Text: Weil draufsteht, daß es hilft – weil der Pharmavertreter es gesagt hat. Ja, wenn das so ist, warum gehen die Leute dann nicht gleich zum Pharmavertreter? Das dürfte schwerlich eine Utopie sein –: fraglos wird es dem Golem eines Tages gelingen, die beiden Berufe im Zuge einer konsequenten Rationalisierung seines Großbetriebs miteinander zu verschmelzen; kaum noch auseinanderzuhalten sind sie bereits jetzt. Die enorme Vermehrung des Wissens auf dem gesamten Gebiet der Medizin, insbesondere auch der Pharmakologie, preist der Pharmakologie-Professor Herken in Berlin --: alles halb so wild; enorm kam ihnen immer schon jeder kleine Fortschritt vor, den sie machten, auch wenn er sich hinterher als ein weiterer Rückschritt erwies. Was immer enorm vermehrt wurde, die Therapiefähigkeit war es nicht – oder? Dann würde man gern Beispiele hören – aus jenen Grund- und Endkrankheiten nämlich, die seit je zum Tode waren und, enorm vermehrt seit jener Vermehrung, immer noch sind. Die Quantität der Arzneimittel nimmt zu, die Gesundheit ab. Es kommt Nichts heraus. Das ahnen bei all dem selbstbewußten Geschwätz durchaus nicht wenige Ärzte, und prüft man sie – viel behutsamer, als sie's selber bei einem tun – auf Herz und Nieren, so zeigen sie sich durchaus bekümmert und beklommen; aber Folgen hat das nicht, und sie predigen sich selber mit demselben Effekt wie der Heilige Antonius den Fischen. Dafür halten sie die externe Unwissenheit desto sorgsamer auf dem neuesten Stand, je mehr ihnen die eigene interne bewußt wird: immer komplexer wird die Nomenklatur ihres mechanistischen Welt- und Menschenbilds, hinter der sie sich verschanzen, weil jeder noch so angeschlagene Gesunde Menschenverstand sofort ins kopfschütteln käme, horte und läse er in Plansprache, was sie wirklich erkennen und wissen –: es ist Nichts. Sie verabreichen blind das ihnen industriell zugewiesene Warenpaket, und nicht einmal dessen Angebot können sie noch überschauen –: rund 50000 Mittel enthält die Rote Liste, das Kompendium der Materia medica, – sollen wir ernstlich glauben, sie seien ihnen sämtlich mit all ihrem Gut und Böse geläufig? Nun kommt selbst eine luxuriös assortierte Klinikapotheke mit nur 2 Prozent davon aus, und der Rest ist Duplikat und Plagiat der diversen Industrie-Konkurrenten oder auch einfach nur teurer Abfall; aber selbst dieser kleine Ausschnitt ist für einen alle Wirkungen beherrschenden, voll verantwortlichen Umgang damit den Praktikern längst nicht genügend transparent. Die Perspektive kann einem angst und bange machen –: entweder ja praktizieren sie lediglich mit dem ganz winzigen Anteil, der ihnen transparent ist, – dann ist ihr Wissen fragmentarisch, und wichtigste Notfallmittel bleiben ihnen vielleicht ganz unbekannt; oder aber sie schreiben ohne Übersicht alles aus, was ihnen vor die Prospektlesebrille gekommen ist, – dann ist ihr Wissen noch fragmentarischer und nur der Mantel einer heillosen Fahrlässigkeit. Zum Nachschlagen läßt ihnen die Drei-Minuten-Praxis ja keinerlei Muße: Kontraindikationen, Neben- und Wechselwirkungen kennen sie kaum, und macht man sie aufmerksam, so wiegeln sie's als Kleingedrucktes ab; Graeca sunt, non leguntur. Was auf sämtlichen Indikationszetteln steht, es sei nämlich, wenn sich bestimmte Folgen der Einnahme zeigen, – ja, nicht etwa das Mittel sofort abzusetzen, sondern der Arzt zu fragen, ist dabei der Gipfel des Hohns auf den ganzen Spott: – der Golem, der seine Verantwortung kleingedruckt abwälzt, weiß genau, wohin er sie delegieren muß, damit der Umsatz nicht nachläßt. Automatismus: sie verabreichen blind, seine Delegierten; sie schreiben aufs Rezept nur ab, was er ihnen befiehlt, und das Ergebnis ist eine gigantische Weltvergiftung, die sich neben der seinen, der allgemeinen, durchaus sehen lassen kann. Als der Unrat der Pharma-Industrie durch die Hinterschleusen in den Rhein geflossen war, haben zahlreiche Ärzte und Apotheker der Öffentlichkeit mitgeteilt, daß sie die Mittel der betreffenden Giftmischereien nicht mehr abgeben bzw. verordnen würden –: ist das nun unschuldsvolle Ahnungslosigkeit einmal mehr? Der Unrat, der die halbe Welt vergiftet, ist jener, der die Zwingburgen durchs Vorderportal verläßt und den sie professionell vertreiben. Sie wissen nichts und sie erkennen nichts. Sieht man sich an, wie lange ihrer aller geballte Praxiserfahrung braucht, um überhaupt zu einem Verdacht gegen ein Mittel, um dann zur zögernden Gewißheit, um schließlich, endlos später, zur Entschiedenheit und zum Rückruf zu gelangen, so fragt man sich, wieso sie überhaupt so kompliziert studieren müssen –: wo eigentlich sitzen ihre Spezialkenntnisse? Die Rückrufe kommen ihnen durchweg überraschend, und oft verschlafen sie die Nachricht überhaupt, und man erfährt erst in der Apotheke, daß das Ausgeschriebene gar nicht mehr ausgeliefert wird. Vielfach trauern sie ihm geradezu nach und halten die Schutzmaßnahme für so übertrieben wie vorher die Warnungen ihrer wenigen besseren Kollegen –: das Mittel hat doch immer so schon geholfen! Aber daß der Patient plötzlich wegbleibt aus der Praxis, hat ja leider nicht stets den Grund, daß er geheilt war: – sollte man nicht den Brauch einführen, auf den Todesanzeigen der Unter-70-jährigen mit abzudrucken, wer sie behandelt hatte? Das Verfahren würde der Intensivmast des Ut-aliquid-fiat direkt an die Wurzeln gehen und zuletzt mit sich bringen, daß unheilbare Krankheiten, wenn auch nicht ohne Beratung, am Ende doch ohne Behandlung blieben –: wäre nicht wenigstens das ein Ziel, nicht nur höchlichst zu wünschen, sondern auch realistisch erreichbar? Einstweilen zerren die Behandler noch um jeden Preis, das heißt um den höchstmöglichen, an den Sterbenden herum, um ihnen auch noch den Tod so zu vergällen und zu vergiften wie lebenslang das Leben, – obwohl ihnen das Hippokrates, auf den sie nach wie vor schwören müssen, ausdrücklich verboten hat –: es ist der Gipfelpunkt jenes Wahns von der totalen Machbarkeit und ihr absolutes Maximum, nämlich das des Umsatzes. Da wird der Arzneimittelschatz mit vollen Händen ausgeteilt und alle Kraft des Patienten zusammengerafft, damit er seiner finalen Großkonsumentenfunktion genügen kann; da gehn sie auf deren Ganzes, dessen Ende in Sicht ist; da haben sie, wo jener sie nicht mehr hat, ihre letzte Chance. Aber was so endet, im abscheulichsten Schauspiel, ist nur die Konsequenz eines von Anfang an terminalen Versuchs: die Schlußapotheose des Automatismus, in der seine sämtlichen Motive enggeführt werden. Der Tod gibt großzügig ein paar Tage her, damit sich das Leben, das sie ihm zuführen, auch wirklich für sie gelohnt hat, und die Erscheinungsdynamik der zunehmenden Arzneimittel und der abnehmenden Gesundheit spitzt sich zum logischen Endeffekt: geht diese auf Null, so erreichen jene ihr Non-plus-ultra. Was sich am Schicksal des Einzelnen zeigt, dürfte einmal die Geschichte der gesamten Medizin sein –: wenn sie die ganze Menschheit endlich in die letzten Züge gelegt hat, wird die Materia medica bis an die Sterne reichen. Und diese automatisch gewordene Dynamik mit ihrer indirekten Proportionalität, diese Summe der Unheilgeschichte sollte nicht schon in der Geschichte erkennbar sein, im Hier und Jetzt? Denn die medizinische Gegenwart, die in den Rückrufen ihr gesamtes Präteritum richtet, – kann sie, bei gleichgebliebenem Prinzip, eine andere Zukunft haben als jene, in der sie selber in Rückrufen gerichtet wird? Was wird das nächste sein? Was würde, verstünden die Anwender auch nur das geringste von der individualen Leibesidentität und ihren Signalen, das nächste sein müssen? Das ganze Paket der Gifte, bei deren Einnahme sich als erstes der Magen umdreht oder, bei i.v.-Applikation, die Intima gereizt reagiert – Schwindel auftritt – Parästhesie an Fingern und Zehen – die Augen übergehen (»Retina- und Makulaveränderungen«) – Darmtrakt und Haut revoltieren und die seelische Konstitution ins Zittern gerät (»Psychosenlocker«)? Das ganze Paket der Gifte, die, besonders wenn langzeitig verabreicht, Blutbildveränderungen im Gefolge haben – von der Leuko- und Thrombopenie bis zur tödlichen Agranulozytose? Man möchte da ja ganz direkt werden und fragen: Wie lange noch müssen wir mit ansehen, wie Ärzte, die nicht einmal die Grunddefinition von Viren kennen, bei jeder »Grippe« hemmungslos Sulfonamide verordnen – statt es bei Komplikationsgefahr mit einer unspezifischen Reizkörpertherapie zu versuchen, die sie ebenfalls meist gar nicht kennen, oder mit proteolytischen Enzymen? Wie viele Lebernekrosen müssen sie noch konstatieren, bevor ihnen das Anilinderivat Paracetamol endlich unheimlich wird (so unheimlich wenigstens, wie es den Engländern schon vor einem Dutzend Jahren wurde)? Der Golem hat es, nachdem ihm das Phenacetin glücklich aus der Hand geschlagen war, in aller Stille als Ersatz in die meisten Schmerzmittel gepackt, und in deren Konsum liegt Deutschland einsam an der Spitze (pro Kopf doppelt so hoch wie Dänemark, sechsfach wie Finnland), von einer naßforschen Werbung gepuscht, die am liebsten jeden Bürger seinen Tag mit dem bekannten »Apothekerfrühstück« beginnen sähe. Wann endlich lernen diese Va-banque-Spieler die Allergien richtig lesen, d. h. die Arzneimittel aus körperfremder Chemie als Allergene überhaupt, und nicht erst beim anaphylaktischen Schock? Was wird das nächste sein, dessen enthusiastische Verheißungen im Rückruf landen? Man möchte geradezu prophezeien – für jene längere Zukunft, auf die man einstweilen nur hoffen kann –: vielleicht die ganze Gruppe der trizyklischen Neuroleptika, etwa die Phenothiazine vom Chlorpromazin-Typ, die in den fünfziger Jahren so begeistert applaudiert wurden und die halbe Nation beruhigten, bis dann – über eine cholostatische Hepatose – gelegentlich auch die Ewige Ruhe die Folge war, was aber die zentnerweise Anwendung nicht weiter behindert hat (und ich kenne Ärzte, die dergleichen ausschreiben, um Kleinkinder »ruhigzustellen«!). Neuerdings beginnt sich immer erdrückender die Gewißheit abzuzeichnen, daß der Dämpfungsschutz solcher Mittel (der ohnehin ein ganzes Elend für sich ist) destruktiven Körperprozessen wie dem Krebs die Entfaltung erleichtert: – sollte das, was so großartig »Hemmung der Aminpermeation von den Speichern zu den Synapsen durch Verringerung der Membranpermeabilität mit Folge der Verringerung der Neurotransmitterkonzentration an den Rezeptoren« heißt, – sollte das vielleicht ganz schlicht auch »das Leben« verringern? All das, oder doch manches davon, mag ja als Notfall-Applikation noch hingehen, unter Berücksichtigung jenes trostlosen Stands der wissenschaftlichen Erkenntnisse, der sich so enorm vermehrt hat. Aber man lasse sich von Apothekern die Verkaufsfrequenz nennen, die der Golem insgesamt verschweigt –: so viele Notfälle pro Quadratkilometer kann es gar nicht geben, solange man dem Verdacht widerspricht, daß die komplette Gesellschaft schwer körper- und geisteskrank sei. Die ganze Medizin ist kriminell, und wo sie als Hauptüberträger der Intoxikation nicht mehr bloß krank und siech macht, sondern zum letzten Ausgang vordringt, sind feinere Unterscheidungen möglich nur noch zwischen Fahrlässiger Tötung und Mord. Eine, wie immer späte Nachwelt wird das sehen –: wie wird sie urteilen? Wie wird sie etwa die Immunsuppressiva beurteilen (z. B. die Glucocorticoide), die wohl widersinnigsten »Heilmittel«, die je in den Arzneihort eingeführt wurden, und, zu ihnen gehörig, die Zytostatika (z. B. die wahrhaft unheimlichen Stickstofflost- und Aethylenimin-Derivate)? Ihre Kurzzeitfolgen sind furchtbar selbst da, wo sie, wie bei den Transplantationen, ein Todesurteil immerhin in Lebenslänglich verwandeln, so wenig länglich dieses auch sein mag, und die Langzeitfolgen sind gar nicht bekannt, weil die Langzeit überhaupt keine Chance vor ihnen hat; lägen die Leidensgeschichten nach der Operation so offen wie die vor ihr, so würde sich mancher um diese Art der medizinischen Begnadigung wohl nicht mehr bemühen. Nein, es hilft nichts; man kann keinen Frieden schließen mit denen, die so etwas enorm vermehrt verordnen, auch keine Kompromisse. Sie sind die Verkaufsautomaten einer sadistischen Industrie; sie wissen und erkennen Nichts: – ja, wieso müssen sie überhaupt noch so kompliziert studieren?
Denn das müssen sie, und daß sie es müssen, trägt nicht wenig zu ihrem illustren Selbstverständnis bei –: was so lange währt, muß doch endlich ausgesprochen gut werden – das am längsten Währende das Beste, die Eingeweihtheit überhaupt. Dabei zeigt schon die Zulassungsfilterung, für welche Art Auserwähltheit ausgewählt wird, und das scheinbar widersinnige Verfahren, unterschiedliche Begabung, Eignung und Motivation ausgerechnet für einen Beruf zu ermitteln, der die Lehrmeinung praktiziert, daß das Psycho-Soma aller Menschen gleich sei und reagiere, wird sofort plausibel und logisch, wenn man sich das Zielergebnis besieht: – bevorzugt wird die mechanistischintellektuelle Denkkonstitution, die zum »objektiven«, norm-automatischen Handeln prädestiniert; wer eher seelische Empfindlichkeit mitbringt, eine tastende Natur, Entscheidungsvorsicht, hat schlechte Chancen. Das Studium selbst ist durchaus entsprechend intellektuell anspruchsvoll, und der Laie sieht mit beklommenem Respekt, was die zukünftigen Herrscher alles lernen müssen, um zur Herrschaft zu gelangen. Aber betrachtet man – nicht mehr laienhaft – auch hier das Ziel und Ende, nämlich die Multiple-choice-Fragebögen der Examina, so hat es sich um die Aufhäufung bloßen positiven Theoriewissens gehandelt, um die sture Aneignung einer festgeschriebenen abstrakten Dogmatik, von der kaum ein Bruchteil in der späteren praxis noch brauchbar ist. Praktiker vergessen das Ganze denn auch innerhalb weniger Jahre, und würden sie nach einem Jahrdutzend diesem Nichtsnutz-Examen noch einmal unterzogen, sie fielen desto sicherer durch, je sicherer sie inzwischen in ihrer Praxis das Heilen gelernt hätten. Das alles ist – schrittweise, denn es war nicht immer so schlimm – von den Standesorganisationen der Golem-Ära ausgeheckt worden, um den reibungslosen Übergang in die Automatenfunktion zu präparieren und ihrer Leere die Wissenschaftsautorität aufzuschminken, vor der inneren wie vor der äußeren Zensur: – wieso eigentlich zeigen Medizinstudenten schon nach wenigen Semestern ein so auffällig anderes Gehaben als alle anderen Wissenschaftsschüler? Fraglos würden sie weniger abgehoben dreinblicken, wenn ihnen statt eines Semesters Pharmakologie auferlegt wäre, ein paar Wochen – und ganz ohne die zusätzliche arteigene Quälerei – in einem Primatenstuhl zu sitzen, um immerhin andeutungsweise und symbolisch den Geist ihrer Wissenschaft am eigenen Leibe zu spüren, – einfach nur zu sitzen und nachzudenken; es könnten sehr besinnliche Zeiten werden. Denn sonst zu nennenswerter Besinnung kommen sie bei dieser Art Ausbildung nicht, bei deren Ende es meist mit der ganzen Bildung aus ist –: wenn sie endlich, nach dem bekannten abgeschlossenen Hochschulstudium, zum Praktikum in die Klinik schreiten, wo nach der ganzen grauen Theorie zum erstenmal nun ganz praktisch geheilt werden soll, so stehen sie vorm absolut Neuen Tor und schauen entsprechend, Verzeihung, kuhdumm drein. Sie bleiben es in der Regel auch, wenn sie wieder herausgekommen sind; wirklich praktische Spezialkenntnisse haben sie, in der Regel, später nur in Immobilien. Die Fachschulung im mechanistischen Denken führt zu einer Verarmung des Denkens überhaupt und einmal mehr auch zu seiner Deformation: Wer unablässig eine angelernte Tätigkeit ausübt, die von so geringem Erfolg gekrönt ist, ohne sie und sich als bloß Angelerntes zu hinterfragen, zu bezweifeln, zu ändern, der muß erzdumm und -dämlich sein; man kann es kurzab nicht anders sagen. Es steht dem Automatismus des Medizinierens auch bezeichnend nicht im Wege; es gehört wie der geringe Erfolg geradezu ja zu seinen Bedingungen. Wie das Ethos verstummt, wie die Gewissenhaftigkeit, sobald das Funktionieren beginnt, so auch die geistige Bewegtheit; nein, wirkliche Gedankenleistungen sind von derart Ausgebildeten schwerlich zu erwarten. So auch keinerlei Grundlösungen der seit Unzeiten gähnend offenen Grundfragen –: der »Geist« der Medizin ist ein bloßes Gespenst, das sich den Aberglauben zurück, die doch die eigentliche Wand und Grenze war. Krankheit ist, was immer auch neuerdings die Gen-Forschung wieder erzählt, nie »Schicksal«, wie diesen Gesundheitsdenkern als letzter Weisheitsschluß einfällt, wenn das Ende ihres Lateins in Sicht ist, sondern immer ein Das-kommt-davon, und der größte Teil dessen, wovon es kommt, dürfte ihr Latein selber sein. Wer sich auch nur kleine Fähigkeiten zur Selbstbeobachtung erworben und das mächtige Wirken der vegetativen, »seelischen«, durchaus meta-physischen Lebenssteuerung zu ermessen gelernt hat, kann schier unsinnig werden, liest er den pompösen Unsinn, der alljährlich tonnenweise von ihnen abgesondert wird, unablässig als dramatischer Durchbruch in der Forschung deklariert, und angst und bange wird ihm bei der Vorstellung, daß all diese fixen Ideen irgendwo an Halbkranken ausprobiert werden, die dann Ganzkranke werden und schließlich in aller Stille zu Grabe gehen wie die fixen Ideen selbst, die in den Köpfen der Urheber neuen Spinngeweben Platz machen müssen; nach einem Jahr ist keine Rede mehr davon. Unsinn, tonnenweise: Rund 70 Millionen Druckseiten medizinischer Fachveröffentlichungen erscheinen weltweit alljährlich, und das Ganze wirkt nicht nur angesichts seines therapeutischen Null-Effekts wie die Hauszeitschrift einer monströsen Irrenanstalt. Zahllose Symptome, auf die hin bei Anderen sofort Behandlungsmaßnahmen eingeleitet würden, sind darin schon stilistisch nachweisbar, und sieht man zusätzlich auch noch die Antlitze der Verfasser abgebildet, so erschrickt man heillos bei dem Gedanken, daß diese frei herumlaufen und praktizieren. Sie tun es, zum einzigen Glück, ohne das alles selber zu lesen; um zu praktizieren, was sie praktizieren, bedarf's nur eines Abonnements auf die »Kartei der praktischen Medizin«, die hinter den Kulissen den jeweils neuesten Unwissensstand aus der Literatur kurz-referiert, und eines auf die Rote Liste. Aber das Elend wächst mit den ärztlichen Einfällen –: wovon kommt es, wenn nicht von den ärztlichen Einfällen? Was eigentlich widerspricht der – beileibe nicht hier zum erstenmal vertretenen – These, daß das enorm vermehrte Kranksein mit dem enorm vermehrten Wissen auf dem gesamten Gebiet der Medizin direkt kausal zusammenhängt? Da sind sie nun freilich sehr entrüstet, die Vermehrer, auch jene, die inzwischen schon wieder als Verminderer rückgerufen worden sind, und verweisen auf die gestiegene durchschnittliche Lebenserwartung –: wohl wahr, daß sie, wenigstens quantitativ, eine Weile gestiegen (und mittlerweile leider wieder rückläufig) ist; aber das ist, etwa, die durchschnittliche Körpergröße auch: – sollen wir uns nun konsequent Gedanken machen, wie auch das auf das Wirken unserer Schamanen zurückgehen könnte? Sie verweisen auch auf etwas konkretere Erfolge wie zum Beispiel die Transplantationen, die eindeutig lebensverlängernd seien; aber sie sind es abermals nur quantitativ und bilden im übrigen eine reine Grauensstatistik mit für dereinst vorausbestimmbarer Bilanz –: auch ein transplantiertes Organ ist der gebliebenen Fehlsteuerung ausgesetzt und erkrankt unfehlbar an demselben Leiden wie das ersetzte, von den übrigen Folgebedingungen der Fremdeinpflanzung zu schweigen. Darüber machen die sonst so auftrumpfend publizierfreudigen Mediziner freilich nur sehr zurückhaltende Mitteilungen; läge das alles offen, so konnte es unabsehbare Folgen geben, zuletzt den Verdacht, daß die ganze chemo-mechanistische Nosologie falsch ist. So lenken sie die Problemgewichtung auf Nebenfragen wie die Immunabstoßung, deren grundsätzliches Wesen sie ebenfalls nicht zu Ende zu denken wagen – weil sie sonst zwangsläufig zu der Erkenntnis vordringen müßten, daß der Organismus ihre gesamte Tätigkeit zum Abstoßen findet. Sie ist es wahrlich – und statt aller weiteren Beispiele, die vielleicht zu abstrakt blieben, trage ein Jeder nur die Erfahrungen seines eigenen engsten Lebensumkreises ein –: in keiner Lehre kollidiert die empirische Gewißheit derart mit der wissenschaftlichen Überzeugung. Wie hätte, wie hat das Urteil über diese Lehre zu lauten?
Nun ist wohl, Satyrspiel, hier nicht der angemessene Ort, die falsche Nosologie der Schulmedizin im Detail zu erörtern –: so albern ihre Vertreter sind und so sehr sie am Ende nach der Karikatur als adäquater Darstellungsform schlechtweg schreien, so ernst bleibt sie als Sache, als zentrale Causa für so vieles Grauen, und eine nur getuschte Skizze würde ihr – als zu leichter wie als zu milder Umriß – nicht gerecht. Es ist ja auch einzuräumen, daß sie selber sich vor dem, was in der Praxis und in den Praxen täglich mit ihr geschieht, nicht wenig graust; namentlich die Pharmakologie läßt es in ihren Lehrbüchern an Warnungen vor sich selber nicht fehlen – und weiß, wenn sie lehrt, durchaus auch, wie wenig sie weiß, was sie lehrt: die Grundtheorien (Rezeptor-Komplex- mit Okkupations- und Geschwindigkeitstheorie, die einander ausschließen und zugleich beide nicht umfassend sind in ihren Erklärungen; Induced-fit-Theorie) sind eingestanden hypothetisch und können gern in Ehren dastehen, solange sie nicht zum Leichtsinn bei den Proben auf ihre Exempel führen. Aber viel ändert das nicht: – auch die Lehre ist nur soviel wert wie die Praxis ihrer Anwendung, sobald es um das Lebendige geht; die Lehre ist Ursache der Anwendung, und wäre sie selber hier auch noch so rein und lauter, so müßte ein derartiges Maß an Mißbrauchbarkeit doch gegen auch sie bedenklich stimmen. Die Ernste Sache, die Falsche Nosologie, die Vorstellung von der Identität des Lebens mit der leiblichen Funktionsmechanik, die Vorstellung von dieser selbst als einem norm-automatisch arbeitenden Labor mit linear ablaufenden Reaktionen – doch ohne Vorstellung davon, wer oder was darin denn eigentlich wann welche Vitren zusammenschüttet –: dieses ganze, durchaus sehr große Thema erforderte gerechterweise eine Abhandlung für sich, und nur einer seiner Brennpunkte soll, weil für das chemische Therapieren bestimmend, hier noch mit anskizziert werden. Es ist der Sitz einer veritablen Schizophrenie. Denn zum einen wächst, wo nicht das Wissen, so doch die handfeste Ahnung von der Größenordnung der Biotransformationskräfte (namentlich in Bezug auf Spaltungen und Konjugationen), und daß sie außerhalb der Modell-Linearität der Laborvorstellungen, in der multiplen Kausalitätsvernetzung eines über-3-dimensionalen Lebenssystems, ähnlich unabsehbar sein könnten wie die hunderttausend Zellfunktionen, wird nur von sturen Positivisten bestritten. Andererseits aber nimmt die Sorglosigkeit immer mehr zu, in die Homöostase eben dieses ungeheuer subtilen Kräftespiels auf die gröbste Art einzugreifen –: dies ist schon in sich un- und widersinnig. Nun verfügt der Organismus als offenes oder Fließsystem entsprechend seiner vielfältigen Invadierbarkeit über sehr vielfältige Möglichkeiten zur Ausscheidung, und man darf ihm einiges zutrauen – einiges, aber nicht alles, strenggenommen nicht einmal vieles. Denn die Fülle der Natursubstrate, auf die er sich in biologischen Zeiträumen eingerichtet hat, ist in denen der jüngsten Geschichte rapide von den Kunstbauten der Chemie übertroffen worden, und sich auf sie einzurichten müßte er wiederum biologische Zeitspannen zur Verfügung haben. Er sucht sich durch Überanstrengung seiner Ausscheidungsmöglichkeiten zu retten –: deren Äußerungen heißen dann u. a. Allergien, werden von der Schullehre grundsätzlich mißverstanden und ihm rabiat verwiesen (und sind dabei »Krankheit« nur als Selbstbewahrungssignal einer hochsensiblen Gesundheit). Gelingt es ihm nicht unmittelbar, so chronifiziert sich die Anstrengung, und es entstehen schwelende Stoffwechselentgleisungen, die nach einiger Zeit, oft erst nach Jahrzehnten, die Krankheit als seinen nicht mehr veränderlichen Normalzustand manifestieren (also das ganze Symptombündel dessen, was der Medizin »Rheuma« heißt und nach seiner wirklichen Genese Hekuba bleiben wird, solange man ihr nicht das Therapie-Alibi sämtlicher Pyrazolinone aus der Hand geschlagen hat). Manchmal schließlich kapituliert er, der Organismus, bereits nach der ersten vergeblichen Anstrengung und hilft sich damit, die Invasionsübermacht von Bayer-Leverkusen und Konsorten in einzelnen Funktionsfeldern zu ghettoisieren, um sein System zu bewahren; dies Freilich auf Zeit doch vergebens: – muß man, den Krebs eher zu verstehen, daran erinnern, daß kanzerogen fast ausschließlich Stoffe aus dem Chemiebaukasten sind? Desgleichen teratogen und mutagen –: es kann nicht zweifelhaft sein, daß die Chemie der Industrie und die Chemie der Natur, bezogen auf »das Leben« und seine ersichtlich überwissenschaftliche Funktionsordnung, Gegensätze von Natur bilden. Kanzerogen, teratogen, mutagen: ist potentiell die gesamte Medizin, die diese Gegensätze ineinander schüttet, und nicht nur das runde Tausend der Stoffe, für die es einwandfrei bewiesen wurde; sie ist für das Lebendige selbst dissoziativ, ordnungsstörend, krankmachend. Die Pharmakologie, der diese Schlußerkenntnis durchaus dämmert, je länger sie sich darauf zuexperimentiert, weicht in gelehrte Dosierungsfragen aus, freut sich beruhigt, wenn zwischen ED-50 und LD-50, der durchschnittlichen Effektiv- und Letaldosis, ein schöner Raum bleibt und schreitet ihn mit vielen, auf dem Papier hocheleganten Hypothesen aus. Aber dieser Zwischen-Raum (einmal ganz beiseite gelassen, was unterhalb seiner, im Bereich der infinitesimalen Dosen, wo keine wissenschaftliche Neugier sich mehr umtut, sehr effektiv noch alles geschieht – weil, wie bei der radioaktiven Strahlung, ganz ohne Wirkung überhaupt keine Dosis ist, wie klein sie sich, auf dem Papier, auch immer ausnimmt und wie großartig daneben das Bagatellisieren der Politidioten) – dieser Zwischenraum bleibt jedenfalls ein Stufenweg zur Letalität und jede ihrer Stufen, wenn an irgendeiner nur quantitativ entfernten Grenzdosis der Tod in Sicht ist, qualitativ toxisch. Es dämmert ihr durchaus vieles, der Pharmakologie; sie kennt durchaus, wenn auch oft nur im Ansatz, ihre Probleme. Das Problem der Pharmaka mit hoher Enzyminduktion zum Beispiel (Barbiturate oder Analgetika wie das berüchtigte Phenylbutazon oder Insektizide wie die Chlorophenotane DDT): die beschleunigte Biotransformation ergreift auch die körpereigenen Stoffe: der Plasmaspiegel sinkt im Handumdrehen ins Defizit. Oder das Gegenproblem bei den Enzyminhibitoren (wie etwa dem auch sonst hochriskanten Chloramphenicol): durch die Abbauhemmung entstehen Konkurrenzen um die Bindungsstellen der Enzyme, die den ganzen Metabolismus unberechenbar aus dem Gleichgewicht bringen. Das Problem der Enzyme überhaupt: ihre Aktivität und Aktivierbarkeit, ihr durchaus unterschiedliches Sortiment, das unterschiedliche Fehlen bestimmter Transferasen bei unterschiedlichen Völker- und Bevölkerungsgruppen, unterschiedliche Defekte bei Individuen, ja Unterschiede zwischen den Lebensaltern desselben Individuums – (ach, wie so mancher Säugling liegt, wenn auch federleicht, auf dem Gewissen des Hausarztes, der ihm Sulfonamide eingetrichtert hat!): die Membranen des endoplasmatischen Reticulums sind, um es bündig zu sagen, nicht weniger individuell ausgeprägt als die Gesichtszüge eines Menschen. Viele weitere Probleme: das der Speicherung durch die varianten Plasmaproteinbindungen, – das der Kumulation bei verlangsamter (etwa renaler) Ausscheidung, wo die nach Normzeiten angesetzte Zufuhr den Abbau überholt und leicht den LD-50-Wert erreichen kann: unkontrollierbares Risiko jeder Dauermedikation, das der augenwischend sogenannten »Nebenwirkungen«, sei denen ein rein begrifflicher Trick zu Wort kommt: »neben« heißen wegwerfend jene Anteile der Hauptwirkung, die einfach unerwünscht sind und die Wünsche oft genug zunichte machen –: alles abhängig von mitunter ausgeprägten, mitunter auch schwankenden individualen Vorgegebenheiten – ganz zu schweigen von den suprasomatischen, »seelischen«, in der Strahlungsebene liegenden Regulationsmustern, die das Forschungsinteresse schlechtweg als nicht-existent behandelt... Die Pharmakologie weiß viel; sie kennt ihre Probleme, die ihr immer wieder die schönen Graphiken der Transformations- und Eliminationskinetik durchkreuzen; sie möchte ums Leben gern Formeln haben und in die quantitativen Struktur-Wirkungs-Beziehungen Konstanten eintragen, und sie wird sie fürs Leben nicht gewinnen. Aber was immer sie weiß und redlich bearbeitet – die praktische Medizin weiß das alles nicht. Sie hat es irgendwann gelernt und dann schnell wieder vergessen, weil es für die Praxis gar zu lästig wäre –: sie verabreicht buchstäblich ohne Ansehen der Person. Sie stopft ihre Waren wahllos ins leidende Leben, als sei es ein Mülleimer; sie blockt und überschwemmt, zerrt hier an dieser Funktion und dort an jener, schlägt auch nicht selten unwirsch mit dem Hammer zu; sie kuriert überhaupt nur – Vorwurf seit Olim – an einzelnen Symptomen herum und hat entsprechend eine Welt- und Menschenanschauung ausgebildet, vor der es der Sau graust: Der Leidende – das ist eben die vom Hersteller seriell gefertigte Maschine, in der man sich, wenn sie nicht richtig funktioniert, jedes Rädchen einzeln vorknöpfen kann, und was als Mitmensch kam, heißt im Jargon, wenn er eingeliefert ist wie ein Delinquent, nur noch Sache: das interessante Ulcus von gestern, der apoplektische Insult von Station B. Die praktische Medizin ist inhuman ebenso, wie sie unwissend ist und anmaßend; sie verdrängt ihre Ohnmacht in die Verachtung der Ohnmächtigen, und die Grenzenlosigkeit der einen ist von der andern abzulesen. Was ihr an Qualität fehlt, ersetzt sie durch doppelte Quantität, damit der Automatismus läuft, der des Geschäfts wie der des Sadismus; was sie da macht, skrupellos addierend, multiplizierend, kumulierend, könnte auch eine weit simplere Lehre als die einmal gelernte und dann vergessene nicht mehr in Schutz nehmen, ohne selbst im Abgrund zu landen. Die Fallbeispiele liegen auf jeder Straße, und was daran extrem erscheint, ist die Symptomspur eines generellen Extremismus ohne Beispiel. Kommt da etwa ein über 70 Jahre alter Mann mit langjährig chronischen Schmerzen in Kopf, Rücken und Amputationsstumpf in eine Spezialklinik, so wird er dort 6 Wochen lang malträtiert (u. a. mit »Eisanwendungen«, »Elektrotherapie«, »Leitungsanästhesien«, »Laserbestrahlungen« und »Infusionen« aller Sorten) und schließlich mit der folgenden Dauermedikation entlassen: Adalat 10 mg 1-1-0, Diazepam 5 mg 1-1-1, Bazaton 1-0-1, Dytide H 1-0-0, L-Tryptophan 2-2-2, Sermion 1-1-1, Sibelium 5 2-0-2, Saroten 25 1-1-1, Lioresal 5 1-1-0, Pulmoclase Kps. 1-1-1, Novalgin Tr. 60-60-60: – fast alles in Maximaldosis, insgesamt pro Tag 29 Tabletten und 180 Tropfen (letzteres von dem schon erwähnten, dem ärztlichen Wähnen mittlerweile entzogenen Metamizol): ein gigantischer Dämpfungshammer mit leider nur zu absehbaren Folgen. Das weitere Schicksal des Patienten ist unschwer vorauszusagen –: wäre es nicht wünschenswert, daß es das Schicksal der gesamten Medizin würde? Der Fall ist weder erfunden noch ad hoc konstruiert; er wurde erst kürzlich von dem redlichen, völlig entgeisterten Hausarzt des Opfers veröffentlicht (Medical Tribune 52/1986), ohne dort freilich zu Ende gedacht zu werden; bei der Klinik handelt es sich um die »Europäische Schmerzklinik« in Sasbachwalden, angeschlossen an die »Europäische Gesellschaft zur Erforschung und Behandlung von chronischen Schmerzen e. V.« (Präsident: Prof. Dr. F. M. Meissner). Und diese Behandlung ist beileibe kein greller Einzelfall –: man befrage nach Belieben ältere Leute, welchen Chemiekonsum ihnen die Ärzte auf Restlebenslänglich vorschreiben, ob sie nun leicht erhöhte RR-Werte in die Unterfunktion drücken, gegen nur drohende Erkältungen haushohe Antibiotika-Barrieren errichten oder auf eine gelegentlich festgestellte Myokardischämie gleich mit Ca-Antagonisten und Beta-Blockern losgehen. Es läuft alles aufs selbe hinaus: die beliebige Verfügbarkeit der großen chemischen Eingriffsinstrumente hat jedes Gespür für die Größenordnung des Eingreifens vernichtet, und so schießen Spatzengehirne mit nicht nur schwerem Geschütz auf Spatzen, sondern immer häufiger gleich mit ganzen Batterien von Artillerie. Dabei klagen sie habituell über den Mißbrauch der Medikamente und wollen für immer mehr davon zur »Sicherung« die Rezeptpflicht durchsetzen –: beiseite gelassen, daß es sich da um eine pure Erwerbssicherung des Standes handelt, ist es der Gipfel des Zynismus überhaupt: sie selber sind's, die den Mißbrauch professionell betreiben; kein Mensch würde sich so hemmungslos mit Giften vollkaufen, wie sie's ihm verordnen. Ihnen, nicht ihm zum Nachteil wird das BGA in ein paar Monaten wieder gleich 132 Analgetika auf einen Schlag verbieten: – das ist freilich alles nicht einmal halbe Arbeit, und die ganze wird erst geleistet sein, wenn das System dieser Medizin selbst aus ihrem Handel gezogen und verboten ist. Sie kennt das Leben nicht mehr; sie weiß nichts und sie kann nichts; ihre Totale Machbarkeit ist reine Mache, ut aliquid fiat. Sie ist verrückt geworden und längst gemeingefährlich –: die ganze praktizierende Ärzteschaft gleicht heute einem Trupp vierschrötiger Klempner, die sich einem Großsystem von Mikrochips mit der Rohrzange nähern. Man muß ihnen dieses Handwerk legen, gründlich, mit aller Rigorosität, ihre ganze Schildbürgergelehrsamkeit wie deren Anwendung; sonst wird es unfehlbar jene Katastrophe geben, die sie der Vorstellung bereits in Reichweite geholt haben. Katastrophe –: es gibt ja den Begriff der »iatrogenen Krankheit« seit schon geraumer Zeit und wie selbstverständlich, so wenig er auch auf den Liquidationen sein Recht bekommt; könnte es in diesem Dunkelfeld »objektiv« zugehen, so müßte auch auf wahllosen Totenscheinen der iatrogene Exitus stehen. Katastrophe, durchaus –: die bei solchen Überlegungen nur überlegen lächeln, haben das Ergebnis ihres dauernden Lächelns bereits hinter sich und brauchen sich nur umzudrehen: eine von chronischen Krankheiten wimmelnde, von Siechtum überkrochene Welt. Es ist ja ein Anblick, der in jedem anderen Zuständigkeitsbereich zu äußerst leisem Auftreten der Zuständigen führen würde: – was heißt es, daß ihnen das penetrant laute Lächeln so gar nicht vergeht? Allüberall stößt man auf den phänomenalen Titel Krebsspezialist – um aus der Phänomenologie dieses Lächelns nur eine einzige Grimasse herauszugreifen –: ja, wenn diese kompakte Erscheinung die Krebsstatistik nicht um einen Teilstrich aus ihrer Trostlosigkeit herausgeholt hat –, kommt man dann um die Folgerung herum, daß es sich lediglich um hochdotierte Spinner handelt, die zu ihrem Gegenstand ein ähnliches Verhältnis haben wie Psychotiker zur Realität? Nun, es leben so viele Leute vom Krebs, wie daran sterben, hat Hans Ruesch gesagt; das wird wohl so bleiben, und wenigstens in dieser Hinsicht dürfte die Medizin mit dem Tod weiter Schritt halten, so weit er sich auch noch ausbreitet. Er breitet sich weiter aus: er bestreitet mit dem Krebs ein volles Viertel seines Bedarfs, und dieser Anteil ist, bei stagnierender Heilungsrate, in den letzten 30 Jahren um 60 Prozent gestiegen. Wo bleibt die Konsequenz? Wo bleibt die Konsequenz aus jener kalifornischen Studie, die den Verdacht erhärtet, daß die Chancen gehandelter Fälle nicht geringer seien als die der qualvoll behandelten? Wo die Konsequenz aus der Bilanz, die der Kasseler Radiologe Krokowski schon vor 10 Jahren auf dem 58. Deutschen Röntgenkongreß vortrug: »Unsere Therapie provoziert in vielen Fällen die Metastasierung« (die, im Gegensatz zum Primärtumor, der garantierte Exitus ist), und »die von Kollegen mitgeteilten 'überragenden Erfolge' beruhen auf entsprechend angepaßter, bereinigter Statistik«? Die Medizin selber, nochmals, ist kanzerogen – als der Einschleuser des Todes par excellence; mit allem, was sie verordnet, selbst mit Aspirin, kann man – und natürlich ist auch das »im Tierversuch« schon längst bewiesen, nur hier ausnahmsweise nicht stellvertretend verbindlich – maligne Gewebeveränderungen hervorrufen; – ist wirklich Unwissenheit der Grund, daß es nicht an der Großen Glocke hängt, die ihre Sterbefälle täglich ausläutet? Man muß ihr, nochmals, das ganze Handwerk legen, gründlich und rigoros –: was sie wissentlich betreibt, ist zuletzt, nach Tendenz und Dynamik, nichts anderes als ein gigantischer LD-50-Test mit der Menschheit, und den halben Wert hat sie bereits erreicht...
Genug –: man muß abreißen, was sonst endlos würde; man muß, wenn auch mit Gewalt, in die Endlichkeit bringen, was sonst an kein Ende mehr glauben ließe. Das Schicksal redet nur in Momenten mit Ironie und läßt die Satyrspiele scheitern, wo es die Tragödie fortspielt, das zur Erde schreiende Unglück –: man muß auch die Ironie gegen das Schicksal da beenden, wo es als der Tod erscheint. Ihm ist keine stilistische Geste gewachsen, was immer sie auch – geschrieben, gelesen – vielleicht an Wappnung leistet, und daß sie einen schweren Stand hat vollends gegen einen Stand, der so erfolgsbewußt in seinem Namen handelt und jede noch so grell gegen ihn erfindbare Wendung sofort zu seiner Wahrheit macht, ist nur die Vorspur des Endes auch allen Stils. Keine Wort-Spiele denn mehr, keine Wörter-Lösungen – nur noch das eine kahle Wider-Wort, die reine Wider-Sache gegen die Sache –: Feindschaft gegen den Gegen-Stand, der Tod und Krankheit vertritt; Feindschaft gegen die nur noch Ernste Sache, die von ihm vertreten wird. Das Leben sträubt sich mit schon fast letzten Kräften gegen die tödlichen Segnungen des Golems –: es muß sich endlich direkt, in Theorie und Praxis, gegen jene sträuben, die sie in Theorie und Praxis verbreiten. In allem Nur-noch-Ernst: Ich mache der Gesellschaft den Vorschlag, mit der ganzen Medizin Krieg anzufangen, Krieg bis aufs Skalpell, Krieg bis zur Bedingungslosen Kapitulation. Er wird sie, die Gesellschaft, Opfer kosten – auch wenn er, als Krieg im Namen der Humanität, nur einer der Aufklärung sein kann, der man in diesem Land keine zu bringen gewohnt ist. Denn sie wird, ebenfalls ungewohnt, sehr fleißig sehr vieles lernen müssen –: sie wird lernen müssen, bei Strafe des Krankseins, wie man gesund bleibt: wie man identisch bleibt mit seinem Körper-Ich und dessen Bedürfnisse wahrnimmt: wie man Befindensabweichungen als Gesundungsarbeit dieses Körper-Ichs erkennt und ihr notfalls hilfreich beispringt: was man dann tut – und, wichtiger noch, was man dann nicht tut: wann erst man wirklich den Ratgeber Arzt braucht und sein Instrumentarium – und wo man nachzusehen hat, um diesen Ratgeber zu kontrollieren: und so fort. Was da zu lernen ist, muß gelehrt werden: es gehört als Unterrichtsfach in sämtliche Schulen, wo ja alles mögliche sonst als unentbehrlich fürs Leben beigebracht wird (und mit der Wichtigkeit der Computertechnik dürfte es die der Gesundheit doch fast aufnehmen können), zusammen mit den Grundkenntnissen der Medizin wie der noch sogenannten Alternativ-Medizin sowie welt- und zeitenweiten Kritik an ihnen, herüber und hinüber. Sehr viele verschiedene Disziplinen müssen dabei helfen, einen gegen die endlose Tradition genügend abgesicherten Lehr-Plan aufzustellen, viele Institutionen auch neben der Schule, nicht zuletzt die für den Unterricht aller Art zuständigen Kultusministerien, die vielleicht doch Wert darauf legen, nicht nur als Zerstörer der Humboldtschen Humanitätserziehung in die Geschichte einzugehen. Auch sie, die Lehrer, müssen lernen wie die Schüler, und es wird mühsam sein und lange dauern; aber erlernbar ist's, auch für den allereinfachsten Menschen – nicht zuletzt weil jene ersichtlich nicht genialen Leute, deren obskurem Mysterienkult die neue Erleuchtung heimleuchten soll, das alles ja schließlich auch einmal gelernt haben und soviel falsch wie sie auch Schüler gar nicht machen können. Sie allein freilich haben draußen zu bleiben, einstweilen jedenfalls –: ihr ganzes Gesundheitswesen, ihre Krankheitswirtschaft ist es ja, was dann einmal auf den Prüfstand eines gewachsenen Bevölkerungswissens zu kommen hat, und keiner der Geprüften darf dabei den Mund aufmachen. Aufklärung, aber Krieg –: denn es geht nicht nur um eine beiläufige Entmystifizierung des Ärzteberufs, um die Wiederherstellung seiner Unwissenheit und Leichtfertigkeit im öffentlichen Bewußtsein –, es geht in letzter Instanz um die Beseitigung einer ganzen Irrlehre, einer Falschheit und Krankheit selbst. Sie wird nicht wenige gute Folgen haben, diese Beseitigung, – bis hinunter zur vielberufenen, ganz banalen »Kostendämpfung im Gesundheitswesen«, die nur als Dämpfung des ärztlichen Anspruchs und der ärztlichen Tätigkeit überhaupt Aussichten hat; sie wird sich am Ende als Dämpfung der Krankheit selber erweisen. Gute Folgen auch im weitesten Sinne: als Erweiterung jener Selbstverantwortung und Mündigkeit, über die der Bürger doch auf keinem Gebiet eher verfügen sollte als auf dem der eigenen Gesundheit – und die man ihm gerade hier abspricht (um sie ihm auf soviel läppischeren Gebieten, von denen er heillos wenig versteht, heuchlerisch zuzusprechen): sie würde schließlich, folgenreich für die gesamte Geschichte, eine Erweiterung seines Selbst-Bewußtseins in jedem Sinne sein. Krankheit, gar mit Schmerz verbundene, weckt Un-Sicherheit, elementare Angst; Die Auslieferung an den Arzt ist mit Ich-Schrumpfung und Objektüberschätzung verbunden; beides provoziert regressives Wohlverhalten, Unterwürfigkeit, diese wiederum Wissensverzicht, Selbstinfantilisierung –: welcher Praktiker kennte nicht die allessagend ängstliche Miene, mit der ihm der Patient bekennt, daß das verordnete Mittel noch nicht geholfen habe, – statt der zornigen, die ihm gebührte! Es ist ja ein Stück der total Verkehrten Welt, und die Medizin, der so gar nicht zu denken gibt, daß sie auch diese Verkehrung immer noch bewirkt, seit historisch lange versunkenen Zeiten, muß ganz einfach auch Geschichte aufholen –: sie muß, kurz gesagt, ihr längst überfälliges 1918 erleben, muß endlich Abschied nehmen von ihrer monarchischen Herrschaft, vom Autokraten- und Gottesgnadentum in ihrem Selbstverständnis, und daß bisherigen Untertanen das aktiv begreifen und ihnen dabei energisch nachhelfen, geht hoffentlich eher ah, als sie den Krieg mit der Krankheit, in den und die sie ihr Volk getrieben haben, endgültig verlieren. Krieg gegen sie: er wird Opfer kosten, auch tragische, unschuldiges Leben das Leben. Denn selbst, wo das krankmachende endlich gebändigt würde und eingeschränkt, bleibt das von ihm bereits Krankgemachte, und für Viele kommt sicher die späte Hilfe zu spät. Auch wird sich das medizinische Wissen nur sehr langsam von der Medizin erholen; es kann Generationen brauchen. Aber die Alternative wäre mit Sicherheit, daß über dem, was diese Schamanen verfechten, am Ende sonst noch die halbe Menschheit über die Klinge springt –: erst wenn die Rote Liste auf ein dünnes Heft geschrumpft ist, wird die allgemeine Gesundheitskurve wieder steigen. Vielleicht auch das Wissen über und um die Gesundheit – wer weiß? Zurzeit ist noch wenig davon in Sicht; damit muß man sich abfinden. »Man muß ein Stück Unsicherheit ertragen können«, sagte Freud. Man muß eine Wüste von Unsicherheit ertragen – so unerträglich sie ist, so leidvoll neben den wüsten Leiden der Kreatur, so entsetzend neben der mittlerweile bis an die Sterne reichenden Entsetzlichkeit der Existenz. Kein Wort der Genugtuung angesichts des großen Nescimus der therapeutischen Schulwissenschaften – wahrhaftig keins. Aber alle Worte, die der Mund hergibt, und alles bißchen Wissen der Vernunft gegen den Dünkel und die hochtrabende Genugtuung, mit denen sich das Nescimus vor den Unwissenden und Unvernünftigen aufspielt. Damit muß es zu Ende gehen, endlich, doch und doch. Und wenn es am Ende dann auch noch so wenig war, – es gehe zu Ende, damit Vieles zu Ende gehen kann.
VI.
Die Aussichten sind gering. So weit reichen die Zusammenhänge, in die das Phänomen Tierversuche blicken läßt, so weit übergreifen sie zuletzt jeden zeit- und ortsgebundenen, jeden nur gesellschaftlichen Zusammenhang, daß sich die Perspektive schließlich im fernsten Dunkel verliert – in jener universellen Finsternis, in der es auch für das Abendland, ihren lange hellsten Ausschnitt, längst Abend geworden ist. Den Schatten, der es zu verschlingen droht, wirft das sicher komplexeste Problem, das eine Menschheitspsychologie aufzuklären hätte: der pervertierte Umgang des Lebendigen mit sich selbst; er hat derart Welt-Weite, daß daneben alle individuale und soziale Geschichte nur untergeordnete Metaphern stellt. Was sie umschreiben, dunkel, erhellend, ist das immer Nämliche: die Groß-Identität des Todes, der das Universum ins Nichts zurückzieht und dessen Sog sich Nichts entziehen kann: – hätte die Erscheinungswelt, selbst mit aller Vernunft, überhaupt mehr Aussicht gegen ihn als, etwa, gegen die Gravitation? Hat er nicht vollends über die nur noch Moralische Rede Gewalt, sie endgültig in jene Lächerlichkeit zu werfen, in deren auszehrender Haft er die bloßen Gefühle längst hält? Was nützen noch wirklich so rührende Überlegungen wie die, ob eine nicht mehr fleischschlacht- und -freßlustige Menschheit nicht auch in ihrer Schlacht- und Freßlustigkeit gegenüber dem eigenen Fleisch und Blut abnähme, – wie die, ob der Quälsüchtige durch bloßen Entzug seines Objekts von seiner Qualsucht zu befreien sei, – wie die, ob nicht das Heil der Gesellschaftsgesundheit selbst in der, bekannt unsicheren, Gotteshand immer noch besser aufgehoben wäre als in der ihrer sadistischen Heiler? Die Metaphern des Wirklichen, wie immer auch anonym oder pseudonym sie auftreten, stehen wie Synonyme in Reih und Glied, und ihrer aller Grund-Bedeutung ist die der Zweiten Triebart. Sie bilden ein Schauerfeld von Symptomen für die immer nur gleiche Krankheit, die in aller Grabesstille ihre Fortschritte macht, und erläutern sich untereinander: – selbst die Tierversuche sind zuletzt nur eines dafür – wie eins für den Zustand der Medizin, der eins für den Zustand der Wirtschaft, der eins für den Zustand der Welt ist, des Menschen, der Alles mordenden Willens-Mechanik; dies steht nicht zu ändern. Was aber wäre dann zu ändern? Was wäre nicht-nichtig vor dieser Gravitation? Die Moral, die so viel Welt und Menschen und Allesmorden gegen sich hat, hat auch in sich selber nicht weniger gegen sich: viele gar nicht dumpfe Ahnungen, viel niederdrückendes Besseres Wissen; sie weiß über das Wirkliche viel mehr als jene, die es nur sind. Sie hat sich selbst zu übertreffen, um bei ihrem Trotzdem bleiben zu können –: – nun, aber sie bleibt's. Viel mehr läßt sich nicht sagen – nur: sie bleibt's. Sie setzt auf die Endlichkeit des Einzelnen im unendlichen Ganzen und bleibt bei ihrer Gegnerschaft gegen jenes in diesem; sie bleibt bei ihrer Feindschaft gegen dieses in denen, die sie unablässig jovial auffordern, ihr Realitätenkabinett doch gefälligst realistisch zu sehen, und damit meinen, daß man sich mit ihnen abfinden müsse, weil sie ja nun einmal so, wie sie sind, realiter da seien; sie leistet sich, notfalls wider ihr vieles Besseres Wissen, den Notfall-Realismus, einen Unterschied zu machen zwischen dem Raubmenschen und seiner alles raubenden Überrealität –: ihm zu widerstehen sei dem Humanum erst erlassen, wenn es selber jener zum Raub gefallen ist. Man kann die horrende Kausalität des Nichtswerdens nicht aufreißen, unterbrechen gar; aber man kann ihr schwierig machen, was sie allzu einfach hat; ist sie in Ewigkeit, so soll sie, trotzdem, hier und jetzt nicht sein. Was irgendwann mit Sicherheit kommt, soll nach aller Möglichkeit doch hier und jetzt nicht kommen –: das Leben selber, jenes durchaus »höhere«, das die M oral vertritt, ist nie mehr als dieser ungewisse Aufschuh des gewissen Tods. Wird er verdrängt aber, als die bleihende perspektivische Totale, so ist dieser Aufschub verspielt und er selbst ganz nahe –: eine Gesellschaft, die ihn, so verdrängend, nur desto mehr verhängt, je hektischer sie »am Leben« bleiben will, wird am wirklichen Leben nicht bleiben. Das Quälen der Tiere als Symptom, als Synonym und Metapher, entsetzlich stellvertretend (unersetzlich?): es wird seinen Zweck nicht erreichen. Der Zusammenhang schließt jede Art Finsternis mit ein –: Wo eine Qual akkumuliert wird, daß davor sogar der Strahlentod als Erlöser erscheint, liegt, auch ohne daß man in esoterischen Weltordnungen nachsehen muß, die Frage nahe, ob er vielleicht deshalb auf Erden zu erscheinen beginnt; Menschen, Parteien gar, die sich auf einen Weltordner berufen, verwundern jedenfalls durch die Zuversicht, mit der sie eine bevorstehende, endgültig bereinigende Welterlösung für ausgeschlossen halten. Das Tierproblem, die Greuel- und Grauensperspektive ohnegleichen, das stärkste Verbrechen, vernunftswidrig, lebenswidrig: ist ein Menschenproblem. Seine Endlast tragen die Mitgeschöpfe, die am Menschen so furchtbar zu leiden haben, weil er selber an sich zu leiden immer mehr verlernt, und seinem endlichen Leben springt die Moral helfend bei, die ihnen zu Hilfe kommt. Sie wird jene ihr gesellschaftlich verliehene Lächerlichkeit mit allen Kräften nutzen: als Ausweis ihres doppelten Rechts, gegen die Menschennatur zu sein und deren bestimmtes Schicksal, und als das Trotzdem des Lebens selbst –: konnte es sein, daß sie, die erst »dann« kommt, zuletzt, nach dem totalen Fraß, am Ende dann doch zuletzt auch lacht? Gegen den Tod ist vieles erlaubt – und ihr, die als einzige diagnostische Instanz den Not-Fall sieht, alles –: wäre erlaubt ihr, Notfall-Realismus, Ironie gegen das Schicksal ein letztesmal, an dieser ganzen Krankheit Quälerei, Sadismus, Inhumanmedizin sogar eine Symptomkur zu versuchen?
Die Aussichten sind gering, in jeder Hinsicht. Aber die Sozietät, durch Komplizenschaft mitschuldig und durch Leichtsinn, verdient als Buße ganz direkt das Risiko eines Großexperiments und Menschenversuchs: ob ihre Gesundheit in zehn Jahren eines Totalverbots aller Tierversuche und ergo der Nicht-Zulassung aller durch sie legitimierten Medikamente nachlassen, ob die Zahl der Erkrankungen, der Sterbefälle steigen wird. Eine große statistische Kommission, die dies untersuchte, wäre überhaupt die einzige Kostenerhöhung, die das Gesundheitswesen noch akzeptieren sollte (um vielleicht anschließend Milliarden sparen zu können): – utopisch? Die daran verdienen, werden es zu verhindern suchen, und die Aussichten gegen sie sind immer gering. Auch die gegen ihre unersetzlichen Stellvertreter, die von Staats und von Rechts wegen --: grad eben ist von der höchsten Gerichtsebene der Qualcharakter der Legebatterien verneint worden; 95 Prozent aller Verfahren gegen Flora- und Fauna-Sadisten werden eingestellt; die Gesetze erweisen sich als untauglich, und die Parteienbande, die das legislative Leistungspaket umschnüren, sind mit den Galgenstricken des Golems derart verfilzt und verknotet, daß niemand sie aufknüpfen kann, um es freizubekommen. Der Große Fraß geht weiter –: ein Gesetz gegen die Fresser, mit wenigstens einem Teil der Verve formuliert, die sonst bei Radikalenerlassen zum Zuge kommt, wird es vorerst nicht geben; daß die Geschichte Politikern auch das anlasten wird, was unter ihrer Ägide nicht-geschehen ist, schreckt keinen von ihnen, und die Vermutung, daß nach ihnen ohnehin die Sintflut komme, hat sich bei manchen ersichtlich schon zur beruhigenden Gewißheit verdichtet. Mißt sich die sittliche Kraft der Staatsarbeit an der Entschiedenheit, mit der sie die destruktiven Kräfte des gesellschaftlichen Ganzen in Schach zu halten und für die Zwecke des Ganzen zu instrumentalisieren vermag, so wird die der Golem-Epoche schwerlich ein befriedigendes Angedenken in der Historie hinterlassen. Der Golem, der der Feind bleibt, der Ghostwriter aller Metaphern vom ewigen Tod –: geringe Aussichten vollends gegen ihn. Die Erwägung des Schweizer Bundespräsidenten, etwa die Produktion gewisser Chemikalien ganz zu verbieten, würde sich ja verwirklichen lassen – in der Schweiz, und sicher dürfte das Schauspiel, daß man das Monstrum würgen kann, eine gewisse Überraschungswirkung auch ins Nachbarland schicken: – man kann es ja; man könnte es sogar bis zur Erstickungsgrenze; die Dynamik der Habgier, des Eigennutz-vor-Gemeinnutz, ist in der von ihr besessenen Menschensorte so durchschlagend gewaltig, daß sie sich, durch hochnotpeinliche Gesetze, bis aufs Blut einschränken läßt, und ihre kreative Kraft würde der Gesellschaft doch nicht verloren gehen. Aber ein derartiger Versuch, das uns alle in Grund und Boden wirtschaftende Pack aus seiner absoluten Suprematie zu reißen und ihm eine erste Angst einzujagen (und wir wollen uns doch einig sein, daß diese unterste Art von Kanaille, die uns den Planeten kahlfrißt und die Mitgeschöpflichkeit bei den Tieren nur so wenig spürt wie bei ihresgleichen sowieso, allein durch Angst zu halbwegs erträglichem Benehmen angehalten werden kann, durch Argumente nicht, durch keinen Appell, durch überhaupt nichts sonst) – ein derartiger Versuch wäre erst der allerbescheidenste Anfang, und der andere, die allesfressende Wirtschaft selber als System in die Subalternität zurückzuzwingen, aus der sie emporgekommen ist, wäre damit kaum erst eingeleitet. Zumal da die dazu nötige Alle Gewalt, die vom Volk ausgeht, der schon genannte alles übergreifende Gesetzesaufwand, den die Welt noch nicht gesehen hat, von diesem Volk ersichtlich noch lange nicht ausgehen, von dieser Welt noch lange nicht gesehen werden kann. Der Fraß geht weiterhin weiter, und jeder Jedermann frißt auf seine kleine miese Art mit, bis er selber auf die große gefressen wird und das Ganze auf die letzte ganze –: »Die Läuse, die auf einem Menschenkopfe sitzen, meinen gewiß, daß dieser bloß erschaffen sei, um sie zu nähren«, nochmals Grabbe (und »die Welten? Vielleicht nur größere Läuse als wie wir«.) Geringe Aussichten –: Diese Jedermann-Gesellschaft, deren Gedächtniskraft nicht einmal von einem Großskandal bis zur nächsten Wahl durchhält, diese nach dem Ausdruck der liebenswürdigen Theologin Ranke-Heinemann »verschlafenste Nation«, die sich für ein »aufgeregtes Volk« hält und zum Beweis nicht viel mehr veranstaltet als disziplinierte Diskussionen mit ausgesuchten Lebemännern und Herrenreitern etwelcher Wissenschaften (ZDF 26.6.86) –: wer von all dem in ihr Ersichtlichen, ecco, nicht um den Nachtschlaf gebracht wird, der hat einen krankhaften Schlaf, zumal am hellichten Tage, und die gelegentlich herumgesprochene Nachricht, daß es bereits fünf vor zwölf sei, drückt eine wahrlich sehr matte Wahrnehmung aus in einem Land, in dem es schon länger unentwegt dreizehn schlägt. Es liest nicht, dieses Land, es hört sehr schlecht und sieht noch weniger; seine Einsichtsperspektive ist so bescheiden wie sein sittlicher Status. So wenig wie man Deutschland jenes aufbrüllende Unrechtsbewußtsein abverlangen konnte, das der Unterrichtung über deutsche Verbrechen hätte folgen müssen, so wenig ist heute darauf Zu rechnen, daß die Information über die Nachfolgeverbrechen gesittete Reaktionen bringt –: nichts ist ja neu daran, alles gesagt und beschrieben; Stoße von Bildern und Büchern; Stapel von Schrift. Deutsche Leser langweilen sich bereits; deutsche Lektoren sehen den Trend vorbei; deutsche Verleger geben den Rest zum Ramsch –: deutsche Leser, Lektoren, Verleger – das sind Jene, die hinterher grundsätzlich nichts gewußt haben. Man kann, als Deutscher, schreibend, angesichts der, auch schon gesagt, riesigen Komplizenschaft des Nichtwissens und Nichtwissenwollens, deren Fortbestehen die Grundlagengeltung der Ethik selbst infrage stellt, so kurz vor Schluß kaum noch mehr tun, um diesem Jahrhundert den Ruf eines Höhepunkts der Barbarei zu nehmen, – als fortzuschreiben, weiter dasselbe zu sagen? Die Gesellschaft ist chronisch krank, daran besteht kein Zweifel; sie frißt den Tod in sich hinein und wundert sich allenfalls, wenn er sich dann in ihr ausbreitet; sie reicht das todsichere Verfahren an ihre Kinder weiter, die schon die geborenen Opfer sind, und erhöht ihr durchschnittliches Lebendgewicht mit einer Erpichtheit, als könnte sie ihre Schlachtreife gar nicht abwarten –: nichts neu; Fortbestehen; Schatten der universellen Finsternis. Das Trotzdem, das »Leben«, die Moral, auch die von der Geschichte, bleibt weiter im Wartestand –: auf was wartet sie noch?
Aussichten, gering. Der Raubmensch, auch diesseits seiner Überrealität, hat viele Gesichter; sie durchgrinsen die Natur, entstellen ihr Antlitz; Feindschaft. In extremen Zeiten verrohen die Menschen, und die Tiere werden Platzhalter der humanen Eigenschaften; es gab sie immer, jene, in denen man der Menschheit als ihr Bestes die Vertierung wünschen mußte. Schopenhauer fand »die Gesellschaft der Zweifüßer entbehrlich« – bei Unentbehrlichkeit seines Hundes: »Wenn es keinen gäbe, möchte ich nicht leben.« So weit muß nicht gegangen werden, noch nicht, vielleicht. Aber wer das Weiße im Auge der Menschheit gesehen und gben in das eines Hundes geblickt hat, der weiß: die Menschlichkeit ist schon lange nicht mehr an dem Platz, an den sie gehört. Sie ist verrückt worden, wird weiter verrückt –: wohin?
Aussicht: ins Nichts. Eine Menschheit, die sich zur Leistung gegen sich selbst außerstande erklärt, zur utopisch tätigen Hoffnung gegen den Tod, wartet mit Recht auf die Wasserstoffbombe.
»Tiere sehen dich an« wurde zwischen Dezember 1986 und März 1987 geschrieben; es erschien erstmals als Nummer 79-81 der Zeitschrift DIE REPUBLIK, herausgegeben von Petra und Uwe Nettelbeck, am 4. April 1987. 1990 wurde das Essay als Haffmanns Taschenbuch Nr. 49 veröffentlicht. Der Titel reflektiert den einer Montage von John Heartfield in Tucholskys »Deutschland, Deutschland über alles« (Berlin 1929), die wiederum den eines vielgelesenen Tierbuchs von Paul Eipper (Berlin 1928) für ihre Portät-Collage von Weltkriegsmilitärs in der Weimarar Republik umgedeutet.
Das Leonardo-Zitat: Leonardo da Vinci, Dell crudeltà dell' omo, im Codex Atlanticus (1483-1518); Text nach: The Literary Works of Leonardo da Vinci, compiled & edited from the original manuscripts by Jean Paul Richter, Oxford University Press 1939, Band II, S. 302; Übersetzung vom Verfasser.
Das Merck-Zitat: Johann Heinrich Merck, Ueber den engherzigen Geist der Deutschen im letzten Jahrzehend; in : Teutscher Merkur, herausgegeben von Christoph Martin Wieland, 1779. Wieland über den Aufsatz: »Es sind, wie Salomo sagt, güldene Äpfel auf einer silbernen Schale, und ich finde weiter nichts daran auszusetzen, als daß er zu bald abbricht.«
Das Schopenhauer-Zitat: Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, Viertes Buch, Kapitel 46 »Von der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens«, erschienen 1844
Das Hahnemann-Zitat: Samuel Hahnemann, Die chronischen Krankheiten, Band I, S. 18 und 20, Dresden und Leipzig 1835 (Ausgabe letzter Hand; Reprint Heidelberg 1979).
Der Wortlaut des Tierschutzgesetzes: Bundesgesetzblatt Jahrgang 1986, Teil 1, Nr. 42, S. 1320 ff; ausgegeben zu Bonn am 22. August 1986
HANS WOLLSCHLÄGER, geboren am 17.3.1935 in Minden/Westphalen; Studium an der Musikakademie Detmold, Privatunterricht beim Dirigenten Hermann Scherchen; autodidaktische Sprachstudien; war Verlagslektor, Organist, Musiklehrer, Übersetzer u.a. von Edgar Allan Poe, Raymond Chandler, William Faulkner und James Joyces Ulysses; lebt als freier Schriftsteller und Wissenschaftler in Bamberg; Herausgeber von Friedrich Rückert und Karl May; veröffentlichte die erste ernsthafte Karl-May-Biographie, eine Geschichte der Kreuzzüge und andere kirchenkritische Schriften.
Bisher erschienen im Haffmans Verlag: Herzgewächse oder Der Fall Adams (Fragmentarische Biographik in unzufälligen Makulaturblättern. Roman. Bd. 1, 1982) – Wir in effigie (Hans Wollschläger liest aus »Herzgewächse«, 1984) - Von Sternen und Schnuppen (Bei Gelegenheit einiger Bücher. Rezensionen und Zensuren, 1984) – In diesen geistfernen Zeiten (Konzertante Noten zur Lage der Dichter und Denker für deren Volk, 1986) Oscar Wilde, Ein idealer Ehemann (Eine Gesellschaftskomödie, neu übersetzt von Hans Wollschläger, 1986) - »Tiere sehen dich an« oder Das Potential Mengele (Essay, 1989) Außerdem regelmäßig Beiträge im Magazin für jede Art von Literatur Der Rabe (seit Nr. 1, 1982).
»Die ganze praktizierende Ärzteschaft gleicht heute einem Trupp
vierschrötiger Klempner, die sich einem Großsystem von Mikrochips
mit der Rohrzange nähern.
Sie bringen Industriewaren unter die Leute, und welche es zu sein haben,
lassen sie sich blind von den Herstellern
vorschreiben, während sie früher immerhin noch en detail den
Herstellern vorschrieben, nämlich den Apothekern, was sie zu mischen
hatten –: fragt man sie geradheraus, warum sie die Schachtel da verordnet
hätten und keine andere, so kommt nach ein paar allgemeinen Werbetexten
zuletzt immer nur noch der eine gleiche Text: Weil draufsteht, daß
es hilft – weil der Pharmavertreter es gesagt hat. Ja, wenn das so ist,
warum gehen die Leute dann nicht gleich zum Pharmavertreter?«
Hans Wollschläger beherrscht sie noch wie wenige in unserer diplomatisiert Gesellschaft, die Kunst des Streitgesprächs. Polemik ist angezeigt angesichts des Ausverkaufs unseres »Gesundheitssystems«, dessen Prämisse, wie in jener Kommerzsparte, Gewinnmaximierung heißt und besser als »Krankheitswirtschaft« firmieren würde. Es kann nicht schaden, die Verbindung zwischen den Nutznießern und den Protargonisten der Bewegung, der Pharmawirschaft, den ärztlichen Standesvertretungen und der Politik offenzulegen. Als Ausgangspunkt bietet sich das Tierschutzgesetz an, schon weil der Weg vom Tier- zum Menschenversuch nicht weit ist.
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Diese Übersicht ist nicht im Buch enthalten und ist rein informell.
Wir empfehlen, das Buch ganz und von vorne nach hinten zu lesen!
© 1986 by Dr. Hans Wollschläger, 97486 Königsberg -
all rights reserved
Veröffentlicht in DIE REPUBLIK 1987, Haffmanns Verlag 1990, Haug Verlag 1996 Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis von Dr. Hans Wollschläger Texterfassung, HTML-Implementation, Kommentare und Links: © 1999 by Antivivisektion e.V. / Tierversuchsgegner Rhein-Ruhr Alle Urheberrechte liegen bei Dr. Hans Wollschläger. Verstöße werden geahndet! |
URL: http://www.tierversuchsgegner.org/texte/tiere/ - Update: 22. März 1999
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